Thread by @realsci_DE

IchBinSophieScholl - Was aus geschichtswissenschaftlicher Sicht an dem Projekt problematisch ist. ⬇️

“Stell Dir vor, es ist 1942 auf Instagram”. Damit warben der SWR und der BR für ihr gemeinsames Projekt @IchBinSophieScholl. Vom 4. Mai 2021 bis zum Februar 2022 gab es jeden Tag Instagramposts aus der Sicht von Sophie Scholl. /1

Vom Umzug nach München fürs Studium über die Sorgen im WK II hin zum Schuhe putzen + Hering kochen, ist alles mögliche dabei. Fast eine Million Follower*innen erreichte das Projekt. Das ist doch ein toller Erfolg, oder? Kommt drauf an, wen man fragt. /2

Einer Person als Protoganist*in in ihrer Zeit zu folgen, ist ein alter Hut: Mit @eva.stories gab es ähnliches schon 2019 + auch Anne Franks Geschichte wurde schon zu einem Videotagebuch verarbeitet bit.ly/3BqLAkk Trotzdem hatten viele mit dieser Sichtweise ein Problem /3

1) Sophie Scholl hat Instagram … und sonst niemand? /4

Klar, man könnte man das einfach mit der "suspension of disbelief" wegerklären (bit.ly/2G0tVos), trotzdem hinterlässt es einen komischen Beigeschmack, dass Sophie Scholl fast ein Jahr unbehelligt im NS-Regimes posten kann, ohne irgendwelche Konsequenzen. /5

Insbesondere wenn man überlegt, dass gegenwärtig sehr wohl Menschen in autokratischen Staaten bedroht werden und auch Social Media dort einer Zensur unterliegt. /6

2) Die radikal-subjektive Perspektive. /7

Es wurde sich entschieden, nur die Dinge zu thematisieren, die Sophie Scholl erwähnte. Das macht vom Konzept her Sinn. Nur wusste sie natürlich nicht alles oder hat es erwähnt. /8

Das hat erhebliche Konsequenzen: Während Sophie Scholl sich Sorgen um Weihnachtsgeschenke macht, werden andernorts Menschen deportiert und in den Lagern des NS-Regimes umgebracht. /9

Diese Gleichzeitigkeit der Ereignisse wird nicht thematisiert. Ich möchte die NS-Zeit nicht schöner reden als sie war, aber im Vergleich hatte Sophie Scholl ein privilegiertes Leben. Von ihrem Widerstand abgesehen, galt sie in den Augen der Nazis nicht als Staatsfeind. /10

Warum erzähle ich das? Weil die Followerschaft das nicht unbedingt weiß + eigene Familiengeschichten auf Scholls Leben überträgt. Nach dem Motto: "Opa + Oma haben das auch so erzählt", ohne zu reflektieren, warum sie genau das erzählten oder überhaupt davon erzählen konnten. /11

Ich gebe da den einzelnen Follower*innen nicht die Schuld. Schon 2002 haben Harald Welzer, Sabine Moller + Karoline Tschuggnall in ihrer Arbeit ‘Opa war kein Nazi’ gezeigt, wie in deutschen Familiengedächtnissen die NS-Zeit und die Taten der eigenen Vorfahren geschönt werden. /12

Sowas hätte eingeordnet werden müssen, v.a. bei den Kommentaren. Da dies nicht gemacht wurde, findet sich viel geschöntes bis geschichtsrevisionistisches dort. /13

3) "Lass mal Sophie Scholl spielen!" /14

Ich weiß nicht, warum man sich dafür entschied, doch im Team beschloss man Sophie Scholl in den Kommentaren antworten zu lassen. /15

Jede*r, der schon eine Kommentarspalte moderiert hat, weiß, dass eine solche Idee mindestens fragwürdig ist. Vom Aspekt, dass man versucht, jemand zu sein, der vor 70 Jahren lebte und aufgrund ihres Widerstandes im NS hingerichtet wurde, haben wir noch gar nicht gesprochen. /16

Längere Zeit wurden auch Team- und "Schollantworten" nicht getrennt. Erst nach längerer Kritik wurde der Hashtag #Teamsoffer benutzt. /17

Ich könnte noch viel mehr hierzu schreiben, aber ich will diesen Thread nicht noch länger machen. Darum ein paar Hinweise für weiterführende Literatur: /18

Als Gegenprojekt haben @CJahnz, @HeikeGumz und Katharina Helling @NichtSophieScholl gestartet, wo (historischer) Hintergrund und weiteres zu Sophie Scholl und der NS-Zeit geliefert wurde. /19

@fraunora hat dazu einen Artikel bei @uebermedien veröffentlicht: uebermedien.de/60159/sophie-s… /20

@frauenvondamals, @herstory_pod und @frauabgeordnete haben den Hashtag #FrauenImWiderstand bestückt, zwei Podcastfolgen produziert, sowie jüdischen und kommunistischen Widerstand sichtbar gemacht. /21

Auf @wisskomm_de erschien dieser Artikel mit @logge_hh
wissenschaftskommunikation.de/die-rezeption-… /22

Und auch @janboehm hat diesem Kanal eine Folge gewidmet: , wo @ChBunnenberg zu Wort kommt. /23

Nebenbei sieht man auch hier: Monatelang haben Frauen ehrenamtlich in ihrer Freizeit Aufklärung betrieben und als Experten treten dann Männer auf. Auch das ist ein Problem der Wissenschaft. 24/24

@fraunora hat zum Thema #IchBinSophieScholl noch zwei weitere Artikel bei @uebermedien veröffentlicht:
1) uebermedien.de/60368/kann-man…
2)
uebermedien.de/64502/wenn-ein…