Thread by @pavel23

Was bedeutet die #Teilmobilmachung in Russland? Es ist eine Eskalation. Russland verstärkt seine Kriegsanstrengungen und investiert mehr Menschen und Geld in den Krieg. Welche Folgen wird das haben?

Eine Folge der #Teilmobilmachung ist, dass Soldaten, deren Verträge nun auslaufen, nicht nach Hause kommen. Das wird die Moralprobleme der Soldaten, die zum Teil seit 6 Monaten ohne Heimaturlaub im Krieg sind, verschärfen, aber einigen auch Hoffnung geben, dass es besser wird.

Die Zahl von 300.000 neuen Soldaten, die Putin mobilisieren will, ist hoch und wird nicht leicht zu erreichen sein. Besonders fehlt es Russland auch an Spezialisten, Leute, die z.B. in der Lage sind, komplexe Technik zu bedienen, Logistik zu planen und Luftangriffe anzufordern.

Eigentlich müsste es in Russland auch genug Männer geben, die in den letzten Jahren beim Militär waren und deren militärische Kenntnisse und Fertigkeiten noch vorhanden sein müssten - falls sie denn jemals vorhanden waren.

Daran lässt sich allerdings begründet zweifeln, glaubt man Nachrichten über die Zustände in russischen Trainingslagern, wo ältere Soldaten Geld von Wehrpflichtigen erpressen und Training oft mehr auf dem Papier als in Realität stattfindet.

Ein Ex-Wehrpflichtiger berichtete, dass von 20 Panzern der Trainingseinheit nur einer funktionierte und daher praktische Ausbildung nur theoretisch stattfand - auf dem Papier. Das war vor dem Krieg. Im Mai hat Russland zudem viele Trainingsbattalione in den Krieg geschickt.

Grundsätzlich ist es im Krieg aber so, dass am Anfang immer viel schief geht, auf allen Seiten, aber Krieg führt auch dazu, dass Armeen besser werden und dazu lernen und alles mit größerer Ernsthaftigkeit betreiben als zu relativen Friedenszeiten.

Die deutsche Wehrmacht hatte etwa beim "Anschluss" von Österreich auch massive Staus von Militärkonvois, die dem 40-km-Konvoi vor Kiev in nicht nach standen. Überhaupt ist Krieg oft ein ziemlicher Fuckup, und ein essentieller Faktor im Krieg ist die Ausbildung der Truppen.

Russland hat in den letzten sechs Monaten stets den Fehler gemacht, mangelhaft ausgebildete Soldaten an die Front zu schicken, statt sich 3-6 Monate Zeit zu nehmen, um fähige neue Einheiten zu formen, was der Ukraine deutlich viel besser gelungen ist.

Im Krieg geht ist wichtig, welche Fähigkeiten eine Truppe hat, etwa, verschiedene Waffensysteme kombiniert einzusetzen, aber das will gelernt sein. Allein so ein Vorgang wie Luftunterstützung anzufordern, der in Filmen trivial erscheint, ist in der Realität hoch komplex.

Ein Beobachter an der Front muss nicht nur das richtige Kommunikationsequipment und aktuelle Codes haben und die Fachsprache und Koordinaten übermitteln können, sondern auch sicherstellen, dass keine eigenen Truppen getroffen werden, was bei den Russen oft nicht funktionierte.

Zudem arbeiten die russischen Truppen mit Push-Logistik, die für einen Atomkrieg gedacht ist, und sie haben die Fortschritte der letzten 50 Jahre in der Logistik nicht mit gemacht, so Dinge wie Container, Paletten, Gabelstapler und Software.

Stattdessen transportieren sie mittlerweile entpackte Artilleriegranaten im Kofferraum von Zivilfahrzeugen, weil die Verpackung zu groß und zu schwer ist. Russland hat auch kaum militärische Gabelstapler, die an der Front eingesetzt werden können.

Kann Russland all diese Probleme lösen? Die Russen sind nicht dumm und lernen auch dazu, und mit genug Zeit, innerhalb von ein bis drei Jahren, könnte Russland viele seiner Defizite bei Ausbildung und Logistik deutlich verbessern.

Die ersten 6 Monate des Kriegs waren auf russischer Seite von Ad-Hoc-Maßnahmen geprägt. Man hat alles in den Kampf geworfen, was greifbar war, um damit einen schnellen Erfolg zu erzielen. Russland war extrem ungeduldig und hat viel Mensch und Material für wenig Erfolg verheizt.

Wird sich Putin nun die Zeit nehmen, Truppen gut auszubilden und die Truppen an der Front regelmäßig rotieren, um sie zu Hause regenerieren zu lassen? Das Problem, dass er da hat ist, dass viele nicht wieder zurückkommen würden, wenn sie einmal zu Hause wären.

Ich kann auch keinen Trend erkennen, dass Russland vor hat, seine Soldaten menschenfreundlicher zu behandeln oder auch nur besser zu bezahlen, so dass es schwierig werden dürfte, größere Reformen auch umzusetzen, und wie man sehen konnte, ...

...hat die Überforderung durch den Krieg bisher eher zu Regression der russischen Armee geführt, einen Rückfall auf primitivere und brutalere und weniger gezielte Gewaltausübung, die militärisch teuer und ineffizient ist. Einer präzise Granate bewirkt mehr als hundert ungenaue.

Wie die russische Gesellschaft auf die #Teilmobilisierung reagieren wird, dürfte sich in Kürze herausstellen. Meine Erwartung ist, dass sich viele Russen vordergründig dahinter stellen werden, aber privat alles mögliche tun werden, um nicht selbst in den Krieg zu müssen.

Ein Teil wird aber auch dem patriotischen Ruf folgen oder sich mit List einfangen lassen, etwa Versprechen, nur als Fahrer fernab der Front eingesetzt zu werden, um dann nach einer Woche Training genau da hin geschickt zu werden, wie es häufiger schon vorkam.

Die #Teilmobilmachung wird sicher unter dem Strich Russlands Militär verstärken, aber wird es ausreichen? Einheiten des neuen 3. russischen Armeekorps sollen an der Front ziemlich eingesteckt haben und vernichtet worden sein, als sie die Charkiw-Offensive aufhalten sollten.

Auf jeden Fall wird der Krieg erst mal noch teurer, für Russland, für die Ukraine und für uns, und die Frage ist, wie wir, der Westen, auf die weitere Eskalation reagieren werden. Ich rechne damit, dass die Unterstützung der Ukraine verstärkt werden wird, wobei diese ...

...ohnehin auf Hochtouren läuft, und im 2. Weltkrieg waren es 1-2 Jahre, in denen in der westlichen Öffentlichkeit und Presse die ungenügende Unterstützung der Engländer durch die USA im Krieg gegen die Nazis beklagt wurde. Manche Dinge brauchen einfach Zeit.

Die Unterstützung der Ukrainer durch den Westen dürfte noch lange nicht ihren Höhepunkt erreicht hat, und die Ukraine scheint besser mit ihren Kräften haushalten zu können und frische, kampfstarke Einheiten aufstellen zu können, die zu komplexen Operationen fähig sind.

Russland hingegen leidet an strukturellen Problemen im Militär und in der Wirtschaft, deren Lösung in Friedenszeiten nicht gelungen ist. Wird die #Teilmobilmachung das substanziell ändern? Man darf das wohl stark bezweifeln.