Das Problem mit Philosophie ist immer das gleiche:

Philosophie kostet Zeit, Aufmerksamkeit und Geduld. Es gibt sehr, sehr viele philosophische Texte, mit eigenen Kontexten (geschichtliche Situation, Rezeption anderer Philosophen usw.) und eigenen Denkproblemen. /1

Ad #Precht
Philosophie ist unübersichtlich, setzt erhebliches historisches Wissen voraus und fordert jede Menge Einsatz bei der Lektüre.

Es ist also ganz normal, dass man nach Abkürzungen sucht. Nichtakademiker suchen sie in populären Überblicksdarstellungen, die sich verständlich /2
ausdrücken. Sie vertrauen darauf, dass die Autoren schon wissen, was sie da schreiben. Akademische Philosophen suchen die Abkürzung in Standarddarstellungen der Philosophiegeschichte oder in Urteilen ihrer eigenen Schule über die Tradition. Die Darstellungen von Philosophie /3
sind – akademisch *und* nichtakademisch – voller Abkürzungen. Und das gilt nicht nur für den Überblick über die Philosophiegeschichte. Viele philosophischen Werke sind sehr umfangreich. ‚Platon lesen‘ bedeutet, mindestens 24 Dialoge zu lesen, die ihrerseits lange und /4
gewundene Auseinandersetzungen sind. ‚Kant lesen‘ schließt nicht nur die drei umfangreichen Kritiken ein, sondern auch ihre Vorläufer- und Anschlusstexte, Kants Vorlesungen über Logik, Anthropologie und Geographie, ein umfangreiches Nachlasswerk usw. ‚Heidegger lesen‘ bedeutet /5
mittlerweile über 100 Bände Gesamtausgabe zu studieren. Deswegen gibt es auch hier Abkürzungen. Selbst die Forschung folgt ihnen, beachtet manche, sehr bekannte Werke, sehr genau, ignoriert andere. Dasselbe kann man von Philosophen sagen, die zu einer Zeit als erledigt galten, /6
nur um zu einer anderen Zeit eine ‚Renaissance‘ zu erleben. Ohne Abkürzungen kommt man nicht aus – niemand kann alles lesen.

Man kann aber dank der ungleich verteilten Aufmerksamkeit der Forschung – die einer ungleich verteilten Aufmerksamkeit der Rezeption in der Tradition /7
entspricht – durchaus Texte ausmachen, die für viele Generationen von Philosophen einen bleibenden Anstoß bieten. So wird man mit einer guten bis sehr guten Platon- und Aristoteles-Kenntnis den Großteil der neuzeitlichen Philosophie, die sich auf diese beiden in der einen oder /8
anderen Weise stützt, besser beurteilen können. Kennt man zusätzlich die verschiedenen Versionen der Platon-Rezeption von der klassischen Antike bis in die Spätantike, hat man eine wichtige Grundlage für die mittelalterliche Philosophie. Und studiert man dann noch die /9
verschiedenen Wellen, in denen Aristoteles zuerst in der arabisch-islamischen Philosophie und dann im christlichen Westen gelesen und z. T. neu entdeckt wird, hat man die Grundlagen für die Entstehung der Naturwissenschaften. /10
Das setzt aber voraus, dass man zuerst die Originaltexte genau studiert und dann über offene Fragen mit Texten aus der Forschung nachdenkt. Dafür benötigt man das Handwerkszeug, das man im Idealfall im Studium lernt. Natürlich gibt es auch für Nichtakademiker /11
Einführungen in dieses Handwerkszeug, aber man muss sich dann noch etwas disziplinierter damit auseinandersetzen. All das dient dann gerade mal dem *Verstehen* von Positionen und Debatten. Im Nachvollzug lernt man Argumente und methodische Wege kennen und beherrscht sie /12
möglicherweise irgendwann auch selbst. Erst dann ergibt es Sinn, mit dem *Beurteilen* zu beginnen.

Diesem sehr steinigen Weg, der sich an den tatsächlichen philosophischen Diskussionen orientiert, steht das einfache Angebot gegenüber, sich im Buch eines philosophischen /13
Welterklärers eine informierte Meinung zu bilden. Statt uralter Texte erhält man ununterbrochen Relevanzsignale, die jede Abweichung von dem verhindern, was man eh für selbstverständlich hält. Populärphilosophie vom Zuschnitt #Prechts schmeichelt ihren Lesern. /14
Sie verführt sie zu der Illusion, dass man nach drei Bänden von #Prechts privaten Ansichten, die er mit ein paar Plotpoints, O-Tönen und Informationen gliedert und garniert, sich die ganze Arbeit sparen kann. Schnell entsteht der Eindruck, akademische Philosophen, die ihn /15
kritisieren, seien nur neidisch, dass er dasselbe kann wie sie, nur besser. Dass es gerade nicht dasselbe ist, sondern etwas ganz anderes – um das zu sehen, müssten sie die akademische Philosophie und ihre Kritik ernst nehmen, statt sie in einer starken Meinung zu erledigen. /16
Also sie genau so zu erledigen wie Precht die Philosophie in starken Meinungen erledigt und scheinbar verständlich und zugänglich macht. #Precht vermittelt seinen Lesern also gerade das Handwerkszeug, das es ihnen ermöglicht genau das auszublenden, was Prechts Bücher /17
in Frage stellen könnte. Er isoliert sie von der philosophischen Kritik, indem er vorgaukelt, den Leuten Philosophie nahezubringen. Und er vermittelt ihnen den Eindruck, dass es in der Philosophie um Meinungen und Weltanschauungen gehe, also um genau das, wogegen sich /18
Philosophie seit Platon richtet. Indem er den Inhalt mit sachlichen Informationen durchsetzt, rechtfertigt er das Wie, das keine philosophischen, sondern geradewegs antiphilosophische Haltungen produziert – der Philosophie wie den philosophischen Kritikern Prechts gegenüber. /19
Es gibt viele Abkürzungen für die #Philosophie. Einige sind nötig, damit es Forschung geben kann. Einige sind auch in der akademischen Philosophie nur Ausdruck von Verschulung und ideologischer Haltung. Und einige tun das Gegenteil dessen, was sie vorgeben zu tun. /20 End

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Sep 22
Ein paar erläuternde Worte zu gestern: Es gibt im philosophischen Diskurs eine bestimmte ‚Sprachlosigkeit‘ zwischen Analytikern und Nichtanalytikern. Diese ‚Sprachlosigkeit‘ ist ein Erbe theoriepolitischer, nicht unbedingt philosophischer Auseinandersetzungen. /1
Es gibt zu der Kluft, die sich hier auftut, viele Stimmen, auf beiden Seiten. Und natürlich beeilen die Analytiker sich, zu versichern, dass diese Kluft nurmehr historisch sei und sie gut mit Nichtanalytikern zusammen arbeiteten. Diesen Luxus können sie sich leisten, weil /2
die Analytische Philosophie in den letzten Jahrzehnten an allen großen Instituten und Seminaren Lehrstühle beansprucht hat, die vorher nicht analytisch waren, eigene Zeitschriftenreihen aufgebaut hat, nachdem sie vorhandene über neue Herausgeberschaften thematisch ausgedünnt /3
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@aleph_eins Klar. Formalisierung von zunächst nichtformal aufgebauten Argumenten führt regelmäßig dazu, dass man Kontexte ignoriert. Wenn am Ende ein Widerspruch herauskommt, soll das die fragliche These widerlegen, obwohl die beiden Bestandteile unterschiedliche Hinsichten voraussetzen. /1
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Analytische Philosophie ödet mich an. In wirklich jeder Version.

Formale Darstellungen, die Präzision vermitteln sollen, aber logisch völlig unbedarft sind. Primitive Ontologien. Ahnungslosigkeit bezüglich der Tradition. Inszenierte Skepsis, während man hemdsärmelig mit /1
Voraussetzungen umgeht. Das ewige Wiederaufwärmen uralter Probleme. Das gänzlich unreflektierte Anhimmeln der eigenen ‚Klassiker‘. Die völlig überzogene Lobhudelei in Buchbesprechungen.

Und dann diese Symposien. Analytiker:innen machen immer ‚Party‘ und Fotos davon. /2
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