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Oct 8 12 tweets 2 min read
Ich habe wegen des politischen und öffentlichen Umgangs mit dem Ukrainekrieg und seinen Folgen so einige Pandemie-Déjà-vus - leider keine ermutigenden, insbesondere mit Blick auf die Klimakrise als größte existenzielle Krise.🧵
1. Ziellosigkeit und ewiges Fahren auf Sicht über die ersten Schockmomente hinaus. @drfranksauer neulich bei Sicherheitshalber: Die Bundesregierung sagt nicht klar, welches Ziel sie mit ihrem Handeln im Kontext des Ukrainekrieges verfolgt. Auch in der Pandemie oft angemahnt.
Ohne übergeordnete strategische Ziele ist man nicht nur in einer reaktiven Position - es fehlt auch ein Maßstab für die vielen kleinen Entscheidungen, die es in Krisen zu treffen gilt. Dadurch viel Verunsicherung, merkwürdige Detaildiskussionen, nicht nachvollziehbare Abwägungen.
2. Normalitätsillusionen: Statt offen auszusprechen, dass sich Dinge langfristig ändern müssen, wird der Eindruck erweckt, man tue alles dafür, dass alles beim Alten bleiben könne. Aktuelles Beispiel: die Gasknappheit und der dadurch bedingte Gaspreisschock.
Ich habe einigen Kolleg*innen aus der Ökonomie zugehört in dem letzten Monaten und mitgenommen, dass Maßnahmen, die sich auf die Stabilisierung der Gaspreise richten, nicht zielführend sind, weil sie den Anreiz zum Senken des Verbrauchs dämpfen.
Selbstverständlich müsse der Staat soziale und auch ökonomische Härten abfedern, aber Gas - und mittelbar auch Energie insgesamt - sind knappe Güter, die einzusparen sind. Gas ist zwar weniger klimaschädlich als andere fossile Energieträger, aber eben ein fossiler Energieträger.
Die harte kriegsbedingte Disruption hat nur eine Wende eingeleitet, die längst überfällig war und die in einer umfassenden Modernisierung münden könnte statt weiter das zu erhalten, was die Klimakrise befördert und uns an rohstoffreiche Diktaturen bindet.
Solche Trägheitstendenzen beobachten wir auch in der Pandemie zuhauf - und auch da sehe ich noch nicht, dass sich die eigentlich gewonnenen Erkenntnisse in Public-Health-Fortschritten materialisieren, sondern eher einen Backlash zum alten problematischen Normal + Covid on top.
3. Verteilung der Aufmerksamkeit: An beiden (bzw an allen drei) Krisen ist frappierend, dass das eigentliche Übel verhältnismäßig wenig Aufmerksamkeit erhält im Vergleich zu ausufernden Diskussionen der Gegenmaßnahmen.
In dieser Aufmerksamkeitsverteilung zeigt sich ein interessanter Mix aus Schicksalsergebenheit und Egozentrismus, der für einige vor allem bedeutet, *andere* bereitwillig ihrem Schicksal zu überlassen, weil man glaubt, so die Kosten für sich selbst gering halten zu können.
4. Expert*innen: Vermeintlich kritische Stimmen, die sich früh exponiert haben und sich völlig unbenommen von allen Entwicklungen auf ihren Positionen einmauern und von den Medien dafür erstaunlich häufig und liebevoll umgarnt werden.
5. Verschanzen hinter Scheinbegründungen: „schwindende Solidarität“, „keine Alleingänge“, „Pandemiemüdigkeit“, „keine Insel“: Nichts davon ein Determinismus mit Blick aufs politische Handeln, alles empirisch und argumentativ widerlegbar. Aber leider dennoch Evergreens. /

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Sep 25
Auf dem gestrigen Long-Covid-Symposium @TheWHN ballte sich die medizinische Fachexpertise zu dieser Krankheit: @claudia_ellert, @HallekMichael, @C_Scheibenbogen. Aus sozialwissenschaftlicher Sicht fand ich einen Punkt besonders interessant - die (Nicht)Anerkennung von LC. 🧵
Den Eindruck, dass die Long Covid Advocacy primär von Betroffenen geleistet wird, hatte ich schon von Beginn der Pandemie an - das ist im Lichte dessen, was wir aus der Advocacy-Forschung wissen, an sich nicht überraschend. Aber eine mögliche Verbindung war mir nicht klar:
In der Tatsache, dass die Definition des Krankheitsbildes so srark von Patient*innen vorangetrieben wurde und wird, liegt eine mögliche Erklärung dafür, dass verhältnismäßig viele Betroffene schlechte Erfahrungen machen, wenn sie sich an Ärzt*innen mit der Bitte um Hilfe wenden.
Read 10 tweets
Sep 24
2 Ergänzungen zum Part über Landminen in der sehr guten Folge @sicherheitspod:
* In der Ukraine stellt sich das Räumungsproblem auch für Streumunition und andere explosive Munitionsrückstände - und da ist die Räumung noch schwieriger und gefährlicher als bei Landminen. Warum? 🧵
Wie @drfranksauer richtig sagt,kann man bei Landminen zumindest darauf hoffen, dass Minenfelder erkennbar gekennzeichnet und kartiert sind; völkerrechtlich vorgeschrieben ist es im entsprechenden CCW-Protokoll von 1980. Bei Streumunition gibt es solche Felder nicht.
Streubomben werden nämlich nicht wie Landminen gezielt verlegt, sondern aus großer Höhe abgeworfen und zwar über riesigen Gebieten („area weapons“). Außerdem können einzelne Bomblets (die in einer Streubombe enthaltenen Submunitionen) durch Wind zB ganz woanders hingeweht werden.
Read 8 tweets
Sep 21
Manche Menschen geben sich verwirrt wegen der Pandemiestrategie Chinas und dem No-Covid-Ansatz, den wir für 🇩🇪 und 🇪🇺 entwickelt hatten. Ich versuche, kurz zu klären, wie sich das mE zueinander verhält, denn offensichtlich ist nicht alles offensichtlich, was ich dafür halte.🧵
Ganz allgemein ist aus meiner Sicht eine Pandemiebekämpfung optimal, die den Zielkonflikt zwischen dem Gesundheitsschutz und anderen Gütern (persönliche Freiheiten, Ökonomie, Bildung) so löst, dass beide Seiten möglichst wenig beschädigt werden.
Nun gibt es verschiedene Kombinationen dieser zwei Dimensionen. Als gute Politikwissenschaftlerin finde ich da eine Vier-Felder-Matrix hilfreich (die zur Veranschaulichung mit absoluten Kategorien arbeitet - sie sind natürlich graduell) Image
Read 12 tweets
Sep 20
Einige Dinge, die mir vor der Pandemie und vor der Ausweitung des Ukrainekrieges nicht klar waren und mich teils erstaunt, teils erschüttert haben.
Stichworte: Politik und Gesellschaft, Verschwörungserzählungen, Verdrängung, Kausalität, Wissenschaft. 🧵
1. Die 🇩🇪 Gesellschaft ist der Politik voraus. Es gibt eine beeindruckende Zugänglichkeit für Argumente, ein großes Potenzial für Solidarität, Rücksicht und Gemeinschaft. Statt damit zu arbeiten, lassen sich Regierende bisweilen von lauten und aggressiven Minderheiten treiben.
2. Verschwörungserzählungen sind gefährlich - vorher habe ich sie als wunderlich abgetan und ihre soziale Sprengkraft verkannt. Wenn Menschen in diese Welt abgleiten, scheint mir psychologische Hilfe der notwendige erste Schritt und erst wenn sie greift, kann man argumentieren.
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Aug 31
🧵 Ich bin diese regelmäßigen unprovozierten Eruptionen an Diffamierung in Richtung der Wissenschaftler*innen, die die NoCovid-Strategie erarbeitet haben, leid. Insbesondere, wenn sie von Menschen kommen, die durchaus die intellektuellen Kapazitäten haben (sollten), die Strategie
und ihre Implikationen zu durchdringen, sich aber nicht die Mühe machen, es zu tun - oder noch bedauerlicher, sehr wohl verstehen, was NoCovid ist und sich dennoch in irreführender und karikierender Weise dazu äußern, um, ja, um was eigentlich zu erreichen? Folgendes sei daher
trotz all meiner Ermüdung, was dieses Thema angeht, zum x. Mal erklärt:

Der NoCovid-Ansatz sollte einen Versuch darstellen, SOWOHL die Pandemie in den Griff zu bekommen ALS AUCH die Kollateralschäden zu reduzieren. Wir haben in Synergien, nicht in Konflikten gedacht. Und jeder,
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Aug 11
Diese Briefe an die 🇷🇺 Militärverwaltung, größtenteils von Angehörigen 🇷🇺 Soldaten, haben es in sich - nicht, weil sie neue Informationen enthalten (eher nicht), sondern weil sie zeigen, wie 🇷🇺 auch mit eigenen Bürgern umgeht (aber auch das: no news). Trotzdem 🧵 mit O-Tönen.
„Mein Sohn sagte mir am Telefon, sie fahren auf einen Lehrgang - aber es stellt sich heraus: in den Krieg. Ihnen wurde mitgeteilt, sie seien ab dem 23. Feb Zeitsoldaten, obwohl er nichts unterschrieben hat. Alle anderen um ihn herum sind auch Wehrpflichtige“
„Ich bin die Schwester von X. Er wurde mittels Betrug in die Spezialoperation auf ukrainischem Territorium geschickt. Bitte unternehmen Sie etwas gegen die unlauteren Befehlshaber seiner Einheit und bringen ihn zurück nach Russland“
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