Es mehren sich die Stimmen, die ein Überdenken des westlichen Unterstützungskurses mit Blick auf Russlands Krieg gegen die Ukraine anmahnen.
Warum ich meine, dass ein solcher Schwenk (aktuell [noch]) ein Fehler wäre. Monster-Thread zum Sonntag.
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1/24
Vorab: Die Diskussion ist extrem wichtig als „reality check“. Schön, dass wir das so praktizieren können. Wir täten gut daran, pfleglich mit dieser Meinungsfreiheit – sowie miteinander! - umzugehen.
2/24
Den wesentlichen Anlass für die Debatte geben die „Zerstörungsrisiken einer nuklearen Eskalation“.
Das überrascht nicht. Putin hat seine nukleare Drohung auf die ukrainischen Gebiete ausgedehnt, die er zu annektieren sucht. Er will sie gewaltsam unter seinen nuklearen Droh-Schirm zerren, um auf diese Weise seine Invasion nuklear abzusichern.
Er hat außerdem mit der Mobilisierung sein politisches Überleben enger an den Ausgang des Krieges geknüpft. Damit signalisiert er uns Entschlossenheit. Putin hat so das Gesamtrisiko erhöht - das Stichwort lautet: Risikoeskalation.
Die Schwierigkeit dieser Meinungsbeiträge ist (nicht, weil sie schlecht sind, sondern weil Meinungsbeiträge eben gegenwärtig so funktionieren!), dass sie Annahmen treffen müssen über mögliche „Enden des Krieges“:
7/24
- Die Ukraine erobert die Krim zurück? Putin steht mit dem Rücken zu Wand!
- Putin steht mit dem Rücken zur Wand? Er greift zu Nuklearwaffen!
- Putin wird gestürzt? Russland versinkt im Chaos (was noch viel schlimmer ist)!
Und so weiter...
8/24
Auffällig ist so zum Beispiel, dass @PeterRNeumann eine plausible Projektion (siehe Snyders sehr lesenwerten Text unten), nämlich Putins Sturz, unmittelbar mit größerer Gefahr kurzschließt.
Das Problem ist in meinen Augen weniger der Zielkonflikt zwischen duckmäuserischem »Pazifismus« und risikoblindem »Freiheitskrieg« in der nahenden Zukunft. Das Problem ist, grundlegender, der Denkmodus des „Vom-Ende-Her-Denkens“ im Umgang mit dem Krieg.
10/24
Mir fehlt beim Motiv des „Vom-Ende-Her-Denkens“ die Demut vor Überraschungsmomenten und der Ungewissheit der Zukunft im Krieg. Als ob wir wüssten, welche zwei oder drei (plausiblen) "Enden" es gäbe und uns danach richten könnten!
11/24
Es ist somit nur bedingt hilfreich, zu versuchen, die Zukünfte dieses Kriegs auszuloten. Primär sind wir gefordert, der Ukraine dabei zu helfen, diese zu GESTALTEN (höre unten 10:28) – gegen den Willen Putins.
„Unsere“ eigenen, „westlichen“ Gestaltungsziele ergeben sich aus Ethik, Völkerrecht und – vor allem – den sicherheitspolitischen Interessen Deutschlands und der EU (sowie, begrenzt, weil es „unser Krieg“ ist und nicht ihrer, der USA). Deswegen z.B.: Waffenlieferungen!
13/24
Womit wir, Achtung, unerwarteter Schwenk in die Historie, bei der aktuell ebenfalls viel-zitierten Kuba-Krise wären.
Ich hab da mal ein Buch drüber geschrieben (bit.ly/3yt1YjA) ... 😉 @Sicherheitspod. US-Außenminister Dean Rusk sprach damals von einem Starr-Wettbewerb, in dessen Kontext er das Stoppen sowjetischer Schiffe vor der Seeblockade als Blinzeln interpretierte.
15/24
Bevor mir jemand vorwirft, ich ginge im Folgenden »nonchalant« mit Eskalationsrisiken um: Das Ergebnis meiner ganzen Untersuchung damals war, dass es schlicht nichts gibt, was verlässlich nuklearen Nichtgebrauch garantiert. Das Risiko ist da. Kein Zweifel.
16/24
Und: Es gibt definitiv mehr Unterschiede als Gemeinsamkeiten zwischen der Kuba-Krise und dem Hier und Heute. Aber das Motiv des Willenskonflikts - des Nervenkriegs - ist sehr wohl übertragbar. Und ich denke es ist für den Westen zu früh zum Blinzeln.
17/24
Warum? Weil wir auf zwei Wegen zum Gebrauch einer russischen Nuklearwaffe kommen können. Unabsichtlich (1) und absichtlich (2). Und beides ist nach wie vor nicht sonderlich wahrscheinlich.
18/24
Zu (1), zugespitzt: Anders als im Falle der Kuba-Krise tauchen unter der Ukraine keine russischen U-Boote mit nuklearen Torpedos. Es sind keine Nuklearwaffen disloziert. Das Risiko eines Unfalls ist vage existent – aber sicher nicht akut.
Zu (2, a): Putin hat ein Glaubwürdigkeitsproblem. Er hat x-fach mit Nuklearwaffen gedroht. Passiert ist: nichts. Wir sollten seine Drohungen ernst nehmen – tun wir ja. Aber sie existieren eben auch nicht ohne Kontext.
Zu (2, c): Abschluss-Take: Im Lichte der ihm drohenden exorbitanten Kosten würde Putin nochmal klar signalisieren, was er mit seiner nuklearen Erpressung konkret will. Mit anderen Worten: Er wird auf die off-ramp zeigen. Damit lehne ich mich - zugegeben - aus dem Fenster.
22/24
Man mag jetzt einwenden, dass auch ich in diesem Thread zahlreiche Annahmen treffe. Das stimmt. Aber zumindest leite ich diese nicht aus einer hypothetischen Zukunft, sondern aus den letzten sieben Monaten Empirie ab.
23/24
Zurück zum Ausgangspunkt: Wichtig ist, sich nicht argumentativ einzumauern (das war und ist bis heute ein Kernproblem während der Pandemiebewältigung). Polarisierung und #Team-Twitterei schaden nur. Auch ich werde meine Argumente, bestimmt schon morgen, überdenken.
Der Angriffskrieg des Nuklearstaats Russland gegen den Nicht-Nuklearstaat Ukraine ist die parallele Eskalation von "Gewalt" und "Risiko". Die jüngsten Entwicklungen fügen sich in diese Systematisierung wie folgt ein:
Die vom Westen unterstützte Ukraine dominiert eindeutig die Gewalteskalation. Sie hat die Initiative auf dem Gefechtsfeld und kann Russland hier mit konventionellen Mitteln stetig steigende Kosten aufbürden.
2/8
Putin reagiert (erneut, mangels konventioneller Alternativen) mit Risikoeskalation. Dazu gehören die Mobilmachung ebenso wie die sog. "Annexionen", mit denen er dreist die Rückeroberung russisch besetzter ukrainischer Regionen in Angriffe ...
3/8
Russia's arsenal of ~2.000 (estimate!) non-strategic weapons is not transparent. It is commonly assumed to include
- air-to-surface missiles
- short range ballistic missiles
- gravity bombs
- depth charges
- anti-ship
- anti-submarine
- anti-aircraft missiles
- torpedoes
- a ground-launched cruise missile
- Moscow’s antiballistic missile system (yes, Moscow has an ABM system [always had, even when the ABM treaty was still in force], and it's using nuclear tipped missiles.
Another commonly held assumption is that "suitcase nukes", landmines and artillery shells, which the Soviet Union possessed en masse, had been destroyed by Russia around the year 2000 - you know, that small stuff you can easily lose track of. globalsecurity.org/military/world…
On nuclear use: In Germany and elsewhere, the conditions under which Putin might dare to break the nuclear taboo are - once again - under discussion. Here’s a 🧵 with three things to consider:
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1. The most common argument is: Russia will use nuclear weapons „when the very existence of the state is in jeopardy.“ That’s a valid assumption - for it’s exactly what section III clause 19 d) of the Russian nuclear doctrine states. However…
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2a. … this morning, in his speech, Putin issued another thinly veiled threat that nuclear weapons would be used „[i]n the event of a threat to the territorial integrity of our country“. This has to be seen, obviously, in connection to the (totally fake BS!) referenda.
3/9
Putins Charakterisierung dieses (kriegsvölkerrechtswidrigen!) Beschusses kritischer Infrastrukturen mit Marschflugkörpern/ballistischen Raketen als "warnend" passt zur russischen Eskalationsdoktrin. Es ist "TERRor" im Sinne von intra-war "de-TERR-ence" 👇 und ... 1/3
... und soll das Gegenüber zum Einlenken bewegen. Deswegen ist ab jetzt doppelt geboten, Putin genau zuzuhören und die Signale zu verstehen. Einschränkend 2 Punkte: 1. Es gibt diese Angriffe schon länger. Ich zumindest sehe da keine lineare Eskalation "wie im Textbuch". 2/3
2. Man kann angesichts des desolaten Zustands der russischen Streitkräfte schon Zweifel haben, ob Vorgehen "streng nach Doktrin" überhaupt stattfindet. Kurz: es könnten auch schlicht weitere Akte russischer Barbarei sein.
Spass beiseite: Das war der @BundeswehrGI Eberhard Zorn bei einer @dgapev-Veranstlaung heute. Es ging um die deutsche europäische Führungsrolle, und zwar aus seiner - militärischen! - Sicht. Bitte das Video (2:17:30) für den Kontext anschauen 👇
2019 war ich Teilnehmer eines Workshops, der sondieren sollte, was die beste Reaktion der USA auf einen Erstgebrauch von (einer) Nuklearwaffe(n) wäre. Im Fokus stand die Frage, wie das "nukleare Tabu" dabei möglichst bewahrt, also die Stigmatisierung ... 1/18
... von Nuklearwaffen und die Praxis ihres Nichtgebrauchs aufrechterhalten werden könnte. @NinaTannenwald hat in punkto nukleares Tabu bahnbrechende Forschung geleistet. Auf die Bedeutung des Tabus hat nicht zuletzt auch der Abschreckungstheoretiker Thomas Schelling ... 2/18
...2005 in seiner Rede anlässlich der Verleihung des Alfred-Nobel-Gedächtnispreis für Wirtschaftswissenschaften hingewiesen. In den USA gilt seine Stärkung vielen als der nuklearen Stabilität dienlich und somit Teil des strategischen Interesses. 3/18