"Des Todes billige Ware" hat Kurt Tucholsky einfache Soldaten genannt. Als ein besonders eindrückliches Beispiel unter vielen zeigt die Schlacht von Waterloo 1815: wir machen uns keine Vorstellung davon, wie billig diese Ware oft war.

1/
Die Schlacht von Waterloo, 15 Km von Brüssel entfernt, endete am 18. Juni 1815 mit der endgültigen Niederlage Napoleons. Sie kostete etwa 20.000 Menschen das Leben, über 30.000 wurden verwundet, was oft nur einen späteren, qualvollen Tod infolge von Infektionen bedeutete.

2/
Die Ausplünderung der Gefallenen begann unmittelbar nach den Kämpfen durch überlebende Soldaten, denen sich lokale Bevölkerung anschloss. Begehrt waren neben Wertgegenständen v.a Kleidung und Schuhe. Während rundum noch die Verwundeten schrien, zog man die Toten aus.

3/
Leichen mit schönen Gebissen wurden die Zähne ausgebrochen, um sie satzweise an Prothesenhersteller zu verkaufen. Die kochten die Zähne aus, montierten sie in Formen aus Elfenbein, anschließend verkauften sie das Ganze an zahlungskräftiges Publikum im fortgeschrittenen Alter.

4/
In den Wochen nach der Schlacht, wurden die Toten zusammen gesammelt und in Massengräbern verscharrt. Das Merkwürdige: in besagten Massengräbern wurden später ganze zwei Skelette gefunden. Von 20.000. Was war mit den restlichen Toten geschehen?

5/
In den 1830ern explodierten die Preise für Knochenmehl, das als phosphatreicher Dünger auf den Feldern ausgebracht wurde. Knochenmühlen kauften Gebeine en gros auf u stellten keine Fragen. Schon länger nimmt man also an, dass ein Gutteil der Toten zu Dünger verarbeitet wurde.

6/
Im heurigen Sommer hat ein Team von Historikern und Archäologen eine zusätzliche Erklärung gefunden: Für die Filtrierung von Zuckermelasse eignet sich besonders Knochenkohle, die daher bis heute in der Rübenzuckerherstellung verwendet wird.

7/
In der ersten Hälfte des 19. Jahrhundert kam die europäische Rübenzuckerproduktion in Gang. Um den in großen Mengen hergestellten Rübenzucker zu klären und ihm seine weiße Farbe zu verleihen, waren enorme Mengen von Knochen notwendig.

8/
Die Knochen der Gefallenen, so die These, dürfte also auch im großen Stil zu Klärgranulat für die boomende Zuckerindustrie verarbeitet worden sein, wie der Spiegel berichtete (Nr. 35/91).

9/
Die kleinen Leute wurden buchstäblich bis auf ihre Essenz verwertet. In Erinnerung geblieben sind aber nur diejenigen, die sie in den Tod schickten: der geschlagene Napoleon, der triumphierende Wellington, der siegreiche Blücher.

10/
Der niederländische Kronprinz, der spätere Wilhelm II, wurde in Waterloo leicht verletzt. In Erinnerung an dieses sein eigenes Heldentum ließ er auf dem einstigen Schlachtfeld diesen Hügel aufschütten, auf dessen Spitze ein überdimensionierter, eiserner Löwe thront.

11/
Napoleon starb sechs Jahre nach der Schlacht auf Sankt Helena. Wellington machte neben Militär- auch Politkarriere und brachte es bis zum Premier des UK. Blücher ließ sich nach der Schlacht mit einem eigens für ihn geschaffenen "Blücherstern" auszeichnen.

12/
Nach seinem Tod 1819 wurde Blücher in einem eigenen Mausoleum beigesetzt. Von Wilhelm II., der noch 34 annehmliche Jahre verlebte, bleibt immerhin das oben zu sehende, monströse Schlachtendenkmal. Posthum vermahlen wurde, soweit bekannt, keiner der Herren.

13/
Und die 20.000 getöteten Soldaten? Denen widerfuhr, was der billigen Ware des Todes immer widerfährt: sie sind im Dunkel der Geschichte verschwunden.

14/Schluss

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Apr 30
Neben den Kellnern sind die wahren Wiener Autoritäten ja die Fleischhauer. Stehe bei "meinem" an. Hipster vor mir kauft zwei Kilo Schopf ohne Knochen. Ware wird vom stattlichen, gewiss über 70jährigen Meister mit verächtlichem Blick auf den Verkaufstisch geknallt.
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Weist aufgebracht mit dem Kinn auf jungen Mann.
Ich: "Äh. Hm. Was?"
"So a Pulled Porker."
"Ah. Na. Klassisch".
Meister röhrt durch den ganzen Raum: "Na Gott sei Dank! A Normaler! Heit woarn scho fünf von denen da!" [deutet anklagend auf Vorkunden, der tut, als bekäme er
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Weil am Holocaust-Gedenktag gerne mit Adorno-Zitaten um sich geworfen wird, gestatte ich mir einige Anmerkungen.
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Jan 9
So kann man vom Habsburger Leopold I. (1640-1705) erzählen - und tut es in Österreich meist auch. Dabei gäbe es von dem Mann noch einiges mehr zu berichten.

Wenn auch etwas weniger Vorteilhaftes.

Ein Thread.

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Da wäre zunächst Leopolds Faible für höfischen Prunk. Unter seiner Regentschaft verdreifachte sich das Hofpersonal. Die Kosten des aufwändigen Hofstaates verfünffachten sich. Während Kaiser und Adel im Überfluss schwelgten, lebten die meisten UntertanInnen in bitterer Not.

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Ob Leopolds Landeskinder der Gedanke tröstete, dass ihr Regent Singspiele schrieb, während er Unsummen für Festlichkeiten und Repräsentationsbauten verpulverte? Ob es sie stolz machte, dass er allein die Hochzeit mit der eigenen Cousine (u zugleich Nichte) monatelang feierte?

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Nov 11, 2021
Der letzte Regent des Habsburgerreiches, Karl I., verzichtete heute vor 103 Jahren unter wütendem Protest seiner Frau Zita auf die Fortführung der Amtsgeschäfte.

Ein Thread über das schwierige Verhältnis d Republik Österreich zur ehemaligen Herrscherfamilie.

Bild: Karl I.

/1
Seinen Amtsverzicht verglich Karl "mit einem Scheck, welchen mit vielen tausend Kronen auszufüllen uns ein Straßenräuber mit vorgehaltenem Revolver zwingt." Der Schritt hatte va zwei Gründe:

/2


Bild: Schloss Eckartsau, das Refugium der kaiserlichen Familie im Herbst 1918.
1.) Karl sah keine Möglichkeit, seine Macht mit Gewalt durchzusetzen, weil die Armee sich in Auflösung befand 2.) hoffte er wohl auch, so nicht als Verantwortlicher für die Niederlage dazustehen, weil andere die schmachvollen Friedensverhandlungen würden führen müssen.

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Read 15 tweets
Sep 10, 2021
Kriegerdenkmäler sind eine erstaunliche Sache. Nach dem Ersten WK war ihre Errichtung in vielen österr. Orten stark umstritten, weil darin oft ein Akt der Kriegsverherrlichung gesehen wurde. Kein Zufall: Proponenten hinter den Denkmälern standen polit. durchwegs rechts.

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Die Aufstellung von Kriegerdenkmäler war ab der zweiten Hälfte der 1920er dann oft auch eine symbolische Inbesitznahme öffentlicher Räume in "roten" Gemeinden. Nach dem WK2 war d Widerstand dagegen völlig erlahmt. Binnen weniger Jahre wurde das Land mit Monumenten überzogen.

2/5
Interessanterweise gibt es in Österreich daran bis heute kaum Kritik - anders in Dtld. Vor Zeiten kam mir der Gedanke, man müsse wenigstens einen Zusatz anbringen. Unter den Namen der Gefallenen "Schande über alle, die aus unseren Söhnen Mörder machten" oder so ähnlich.

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