Die Ukrainer:innen erinnern heute an ihr größtes nationales Trauma, den Holodomor. Diese von Stalin und seinen Gefolgsleuten künstlich herbeigeführte Hungersnot kostete in der Sowjetukraine etwa vier Millionen Todesopfer. Ein Thread.
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Kürzlich wurde bekannt, dass der deutsche Bundestag den Holodomor als Genozid bzw. Völkermord anerkennen will. Was steckt hinter diesem Begriff? Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs „Genozid“, siehe diesen Thread:
Der Holodomor („Tod durch Hunger“) fand im Kontext der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft durch Stalin zu Beginn der 1930er Jahre statt, die in vielen Regionen der Sowjetunion zu Hungersnöten führte (Kasachstan, die Kuban-Region, hier lebten auch Ukrainer:innen,
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Belarus, die Wolga-Region) und insgesamt etwa acht Millionen Menschen das Leben kostete. Relativ gesehen war Kasachstan am schlimmsten betroffen, aber auch die Ukraine war ein Epizentrum des Massensterbens. Zu Sowjetzeiten wurde die Hungersnot beschwiegen und
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erst seit 1989 konnte in der Ukraine über dieses Menschheitsverbrechen gesprochen werden. Das erste bescheidene Holzkreuz, das an die Opfer erinnert, wurde 1989 in Charkiw aufgestellt, seit 1998 gibt es einen nationalen Gedenktag. Es war aber Präsident Wiktor Juschtschenko
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(2004-2010) der den Holodomor zum Zentrum seiner Geschichtspolitik machte. Unter seiner Ägide entstand in Kyjiw das „Museum für den Holodomor-Genozid“, das wohl ganz bewusst in der Nähe der übergroßen sowjetischen Statue „Mutter Heimat“ gebaut wurde. Die Erinnerung an den
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Holodomor stellt die sowjetische Deutung der Geschichte in Frage. Juschtschenko versuchte, die internationale Anerkennung des Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk voranzutreiben. Gerade bei pro-russischen Eliten stieß Juschtschenkos Politik aber auch auf Widerstand,
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sei es, weil man keinen Konflikt mit Russland wollte oder weil sowjetische Traditionen noch stark waren. In Charkiw z.B. konnte ein Holodomor-Denkmal zunächst nur außerhalb der Stadt gebaut werden, obwohl Juschtschenko es im Zentrum haben wollte. Langfristig scheint aber
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seine Geschichtspolitik erfolgreich gewesen zu sein: die große Mehrheit der Ukrainer:innen sehen den Holodomor als Genozid. Besonders in Russland, aber auch in extrem linken Kreisen, wird diese bis heute Deutung abgelehnt: Die Hungersnot, so die Behauptung, habe ganz
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verschiedene sowjetische Völker betroffen und habe keine anti-ukrainische Stoßrichtung gehabt. Das ist falsch. Mit Stalins Machtantritt begann schon 1930 der Massenterror gegen die ukrainische Intelligenzija, die dabei fast ausgelöscht wurde, mehr zum Holodomor als Angriff
Das auch heute in der Jungen Welt vom russischen Botschafter vorgebrachte „Argument“, die Ukraine sei nur in so hohem Maße betroffen gewesen, weil sie eine „Kornkammer“ war entspricht nicht dem Stand
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der historischen Forschung. Tatsächlich waren innerhalb der Ukraine die Regionen Kyjiw und Charkiw am schwersten betroffen, die landwirtschaftlich weniger bedeutend waren als andere. Aus Stalins Sicht war aber hier die Gefahr des ukrainischen Widerstands aber am größten.
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Diese Fragen sind auch weiterhin Gegenstand der Forschung, siehe das Projekt unter der Leitung von @SPlokhy an der Universität Harvard: gis.huri.harvard.edu/great-famine-p…. Unbestritten ist aber inzwischen, dass der Angriff auf die Ukraine auch ein Angriff auf die Nation war.
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Betroffen waren drei Gruppen: die Intelligenzija, die ukrainische Bauernschaft und ukrainische Kommunisten, die die Not zu lindern versuchten. Hierzu ist der Essay "Durch Hunger töten" in Plokhys Band „Die Frontline“ zu empfehlen. Die Behauptung des Botschafters, dass
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Moskau versuchte die Hungersnot zu lindern, ist eine Lüge – gerade in Regionen, die als widerständig galten, gab es lange keine Versuche der Linderung, im Gegenteil. Trotzdem sind bis heute einige Historiker:innen skeptisch, ob im Falle des Holodomor ein Genozid vorliegt.
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Das hat auch mit der Geschichte des Begriffs „Genozid“ selbst zu tun. Die 1948 verabschiedete Genozid-Definition (un.org/en/genocidepre…) besagt, dass die „Absicht“ für einen Genozid nachgewiesen sein muss. Aber im Falle des Holodomor gibt es – anders als z.B.
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im Falle des Holocaust mit den Protokollen der Wannsee-Konferenz – keinen Beleg, dass Stalin die Hungersnot mit dieser Absicht plante. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er die Hungersnot ausnutzte, um der Ukraine endgültig das nationale Genick zu brechen. Seit des
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Widerstands der Ukraine im Bürgerkrieg nach der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 sah Stalin das Nationalbewusstsein in der Ukraine als Gefahr für die Sowjetunion. Zugleich lässt sich im Falle der ukrainischen Bauernschaft die soziale und die nationale
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Kategorie nicht trennen. Stalins Machtantritt begann mit einem Angriff auf die gesamte Bauernschaft in der Sowjetunion, deren Lebensform er als Hindernis auf dem Weg zu einer sowjetischen industriellen Moderne sah. Die Menschen in der Ukraine wurden als Ukrainer:innen und
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als Bauern/Bäuerinnen ermordet. Einigkeit besteht darüber, dass Stalin nicht die Auslöschung des gesamten ukrainischen Volkes beabsichtigte, das unterscheidet den Holodomor vom Holocaust. Teilweise gibt es in im ukrainischen Holodomor-Diskurs etwa durch den Begriff
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„Ukrainian Holocaust“ oder durch übertriebene Opferzahlen, die wohl nicht zufällig über sechs Millionen liegen, ein problematisches Konkurrenzverhältnis zum Holocaust. Auch daran sieht man, dass die Frage des Genozids nicht primär eine geschichtswissenschaftliche ist,
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sondern eine politische: es geht um die Anerkennung des massenhaften ukrainischen Leidens, das über Jahrzehnte geleugnet oder relativiert wurde und außerhalb der Ukraine kaum bekannt ist.
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Es ist wohl kein Zufall, dass der Bundestag 2019 eine entsprechende Petition noch abgelehnt hat, es jetzt aber im Angesicht des russischen genozidalen Kriegs gegen die Ukraine auf eine Anerkennung des Holodomor als Völkermord hinausläuft. 2019 war die Begründung für die
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Ablehnung, dass der Holodomor vor der UN-Konvention von 1948 stattgefunden hat. Das mag juristisch relevant sein, geschichtswissenschaftlich aber nicht. Die meisten Historiker:innen sind sich schon länger einig, dass der Holodomor auch gegen die Ukraine als Nation ge-
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richtet war und zu genozidaler Gewalt gegen Ukrainer:innen führte. Aus historischer Sicht muss nicht zwangsläufig die UN-Definition von 1948 maßgeblich sein, Historiker wie Norman Naimark bevorzugen einen weiteren Begriff von Genozid, der auch soziale Gruppen einschließt.
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Bemerkenswert ist, dass der Erfinder des Begriffs „Genozid“, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, davon überzeugt war, dass der Holodomor ein „klassisches Beispiel eines sowjetischen Genozids“ war, so formulierte er es in einer Vorlesung in den USA im Jahr 1953.
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Er sah den Holodomor als Höhepunkt einer sowjetischen genozidalen Politik gegenüber der Ukraine, die in der Tradition des Zarenreichs stand. Einen guten Einstieg in die Debatten, gibt es in diesem Beitrag des Historikers Andrij Portnov: zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2020/1-2…
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Es gibt vieles, was wir über den Holodomor immer noch nicht wissen. Leute wie @JohnVsetecka arbeiten daran, die Lücken zu schließen. Für Deutschland ist wichtig, dass in Schulen & Universitäten mehr über die Geschichte des Holodomor und insgesamt der Ukraine gelehrt wird.
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Lang angekündigt, jetzt erschienen: Meine empirische Analyse des Vortrags von Gabriele Krone-Schmalz in Reutlingen im Gesamtkontext ihrer Bücher & Auftritte seit 2014. Ergebnis: KS und damit die @vhsrt verbreitet in den sozialen Medien Desinformation. Was sagt @vhs_bw dazu? 1/4
Der Aufsatz ist auch für das #TheaterHeidelberg und die @RNZonline relevant. Dort ist Frau Krone-Schmalz im Gespräch mit Chefredakteur Klaus Welzel angekündigt am 14.12. als "profundeste Russland-Kennerin" angekündigt. Warum in einem öffentlich finanzierten Theater eine der 2/4
Hauptverantwortlichen für die Verbreitung von Kreml-Narrativen ein Forum geben, während die Ukrainer:innen massenhaft sterben, leiden, vertrieben, misshandelt werden? Warum nicht @a_magazova, Andrii Portnov (@viadrina) @LjudmylaMelnyk einladen oder @denistrubetskoy aus Kyiw 3/4
During the #PolishGermanRoundtable2022@AgnieszkaBryc shared her thoughts on future scenarios for Poland and Europe should Russia’s war against Ukraine turn into a “frozen conflict”.
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The points she made are relevant for the German debate as commentators like @johannesvarwick often present the scenario of a “frozen conflict” as a “solution” and argue that Germany should pressure Ukraine accordingly and even advocate withholding military support.
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As Agnieszka pointed out this would not be a good prospect for European security: Poland would become a “frontline state” for years. Russian propagandist Margarita Simonyan already stated that now Poland “has its own Belgorod”.
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Some impressions from the #PolishGermanRoundtable2022 in Wojnowice. A thought-provoking talk by Olena Snigyr reflected on what the future might hold for Russia.
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As long as Russia remains an imperial state, it cannot become a democracy and until then it will challenge European security. Wagner could merge with federal structure and she believes that Prigozhin as the “rising star” could succeed Putin.
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We will have a rogue state with nuclear weapons. It is vital to build alliances with the ethnic minorities of the Russian Federation who have begun to organize themselves (mostly abroad) since February 2022. Their voices must be included into our discussion.
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Julia Nida-Rümelin zeigt im Interview mit @DLF einmal mehr eine gefährliche Mischung zwischen Ignoranz und Arroganz. Er behauptet, dies sei nicht primär ein "Konflikt zwischen Russland und der Ukraine", obwohl genau das zentral ist. Die Ignoranz der 🇷🇺🇺🇦Beziehungen, sowie der 1/8
inneren Logik des Putin-Regimes teilt er mit Merkel, Varwick und Co., die sich allesamt als "Realisten", andere dagegen als "naiv" bezeichnen. Wirklich ironisch: diejenigen, die die Realität nicht zur Kenntnis nehmen, inszenieren sich als "Realisten", während es die angeblich 2/8
Naiven sind, die sich der genozidalen Realität dieses Kriegs bewusst sind. Für die Behauptung, Großbritannien hätte die Ukraine von einem auch von Russland gewollten (ja, klar!) Abkommen gehalten, gibt es keinerlei Belege. Sie speist sich aus der typischen kolonialen 3/8
Liebe @vhskoeln@Koeln, nachdem Ihre Kolleg:innen bei der @vhsrt@StadtReutlingen sich mit dem Vortrag von Gabriele Krone-Schmalz bis auf die Knochen blamiert haben, wollen Sie ihre vielfach kritisierte Programmgestaltung zu Russlands Krieg gegen die Ukraine nicht überdenken? 1/3
Gerade läuft der Livestream mit Andreas Zumach, der ähnliche Narrative bedient wie Frau Krone-Schmalz. Am Dienstag dann die Veranstaltung mit Ralf Mützenich und Ralf Becker für den dasselbe gilt. deutschlandfunk.de/ist-friedenset… Das ganze ohne jede Gegenstimme. Unverantwortlich. Noch 2/3
einmal der Hinweis: es gibt mit @MartinAust6@AHilbrenner@KMakhotina@BonkerKirsten@tonsmeyer viele Expert:innen zu Osteuropa in Köln & Umgebung. Eine inständige Bitte: laden Sie mindestens eine/n der Genannten dazu. Sie sind eine öffentlich finanzierte Bildungseinrichtung.
#Köln und Umgebung: Heute findet bei euch der Vortrag von Kreml-Propagandistin Gabriele Krone-Schmalz statt. Ich kann nur empfehlen hinzugehen und diesen pro-Putin-Narrativen und anti-ukrainischen Stereotypen zu widersprechen. Ich habe das bei Veranstaltungen zur #Ukraine 1/4
auch gemacht und kann berichten, dass oft Ukrainer:innen dafür dankbar sind. Sie gehen manchmal auch selbst hin, haben aber durch ihre Traumatisierung (besonders seit 2022) nicht mehr die Kraft zu widersprechen und brauchen Solidartität. 2/4
Und für die ganz Langsamen: Es geht um friedlichen und zivilen Widerspruch gegen die Verbreitung von Kreml-Narrativen während die Ukraine um ihr Überleben kämpft. Das hat nichts mit "Cancel Culture" zu tun, sondern ist im Gegenteil TEIL der Meinungsfreiheit. 3/4