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Nov 26 28 tweets 7 min read
Die Ukrainer:innen erinnern heute an ihr größtes nationales Trauma, den Holodomor. Diese von Stalin und seinen Gefolgsleuten künstlich herbeigeführte Hungersnot kostete in der Sowjetukraine etwa vier Millionen Todesopfer. Ein Thread.

1/28
Kürzlich wurde bekannt, dass der deutsche Bundestag den Holodomor als Genozid bzw. Völkermord anerkennen will. Was steckt hinter diesem Begriff? Zur Entstehungsgeschichte des Begriffs „Genozid“, siehe diesen Thread:

2/28
Der Holodomor („Tod durch Hunger“) fand im Kontext der forcierten Kollektivierung der Landwirtschaft durch Stalin zu Beginn der 1930er Jahre statt, die in vielen Regionen der Sowjetunion zu Hungersnöten führte (Kasachstan, die Kuban-Region, hier lebten auch Ukrainer:innen,

3/28
Belarus, die Wolga-Region) und insgesamt etwa acht Millionen Menschen das Leben kostete. Relativ gesehen war Kasachstan am schlimmsten betroffen, aber auch die Ukraine war ein Epizentrum des Massensterbens. Zu Sowjetzeiten wurde die Hungersnot beschwiegen und

4/28 Holodomor in Charkiw. Verhungerte Menschen liegen auf der St
erst seit 1989 konnte in der Ukraine über dieses Menschheitsverbrechen gesprochen werden. Das erste bescheidene Holzkreuz, das an die Opfer erinnert, wurde 1989 in Charkiw aufgestellt, seit 1998 gibt es einen nationalen Gedenktag. Es war aber Präsident Wiktor Juschtschenko

5/28
(2004-2010) der den Holodomor zum Zentrum seiner Geschichtspolitik machte. Unter seiner Ägide entstand in Kyjiw das „Museum für den Holodomor-Genozid“, das wohl ganz bewusst in der Nähe der übergroßen sowjetischen Statue „Mutter Heimat“ gebaut wurde. Die Erinnerung an den

6/28
Holodomor stellt die sowjetische Deutung der Geschichte in Frage. Juschtschenko versuchte, die internationale Anerkennung des Holodomor als Genozid am ukrainischen Volk voranzutreiben. Gerade bei pro-russischen Eliten stieß Juschtschenkos Politik aber auch auf Widerstand,

7/28
sei es, weil man keinen Konflikt mit Russland wollte oder weil sowjetische Traditionen noch stark waren. In Charkiw z.B. konnte ein Holodomor-Denkmal zunächst nur außerhalb der Stadt gebaut werden, obwohl Juschtschenko es im Zentrum haben wollte. Langfristig scheint aber

8/28
seine Geschichtspolitik erfolgreich gewesen zu sein: die große Mehrheit der Ukrainer:innen sehen den Holodomor als Genozid. Besonders in Russland, aber auch in extrem linken Kreisen, wird diese bis heute Deutung abgelehnt: Die Hungersnot, so die Behauptung, habe ganz

9/28
verschiedene sowjetische Völker betroffen und habe keine anti-ukrainische Stoßrichtung gehabt. Das ist falsch. Mit Stalins Machtantritt begann schon 1930 der Massenterror gegen die ukrainische Intelligenzija, die dabei fast ausgelöscht wurde, mehr zum Holodomor als Angriff

10/28
auf die Ukraine als Nation, siehe diesen Thread: Das auch heute in der Jungen Welt vom russischen Botschafter vorgebrachte „Argument“, die Ukraine sei nur in so hohem Maße betroffen gewesen, weil sie eine „Kornkammer“ war entspricht nicht dem Stand

11/28
der historischen Forschung. Tatsächlich waren innerhalb der Ukraine die Regionen Kyjiw und Charkiw am schwersten betroffen, die landwirtschaftlich weniger bedeutend waren als andere. Aus Stalins Sicht war aber hier die Gefahr des ukrainischen Widerstands aber am größten.

12/28
Diese Fragen sind auch weiterhin Gegenstand der Forschung, siehe das Projekt unter der Leitung von @SPlokhy an der Universität Harvard: gis.huri.harvard.edu/great-famine-p…. Unbestritten ist aber inzwischen, dass der Angriff auf die Ukraine auch ein Angriff auf die Nation war.

13/28
Betroffen waren drei Gruppen: die Intelligenzija, die ukrainische Bauernschaft und ukrainische Kommunisten, die die Not zu lindern versuchten. Hierzu ist der Essay "Durch Hunger töten" in Plokhys Band „Die Frontline“ zu empfehlen. Die Behauptung des Botschafters, dass

14/28
Moskau versuchte die Hungersnot zu lindern, ist eine Lüge – gerade in Regionen, die als widerständig galten, gab es lange keine Versuche der Linderung, im Gegenteil. Trotzdem sind bis heute einige Historiker:innen skeptisch, ob im Falle des Holodomor ein Genozid vorliegt.

15/28
Das hat auch mit der Geschichte des Begriffs „Genozid“ selbst zu tun. Die 1948 verabschiedete Genozid-Definition (un.org/en/genocidepre…) besagt, dass die „Absicht“ für einen Genozid nachgewiesen sein muss. Aber im Falle des Holodomor gibt es – anders als z.B.

16/28
im Falle des Holocaust mit den Protokollen der Wannsee-Konferenz – keinen Beleg, dass Stalin die Hungersnot mit dieser Absicht plante. Vielmehr ist davon auszugehen, dass er die Hungersnot ausnutzte, um der Ukraine endgültig das nationale Genick zu brechen. Seit des

17/28
Widerstands der Ukraine im Bürgerkrieg nach der Machtergreifung der Bolschewiki im Oktober 1917 sah Stalin das Nationalbewusstsein in der Ukraine als Gefahr für die Sowjetunion. Zugleich lässt sich im Falle der ukrainischen Bauernschaft die soziale und die nationale

18/28
Kategorie nicht trennen. Stalins Machtantritt begann mit einem Angriff auf die gesamte Bauernschaft in der Sowjetunion, deren Lebensform er als Hindernis auf dem Weg zu einer sowjetischen industriellen Moderne sah. Die Menschen in der Ukraine wurden als Ukrainer:innen und

19/28
als Bauern/Bäuerinnen ermordet. Einigkeit besteht darüber, dass Stalin nicht die Auslöschung des gesamten ukrainischen Volkes beabsichtigte, das unterscheidet den Holodomor vom Holocaust. Teilweise gibt es in im ukrainischen Holodomor-Diskurs etwa durch den Begriff

20/28
„Ukrainian Holocaust“ oder durch übertriebene Opferzahlen, die wohl nicht zufällig über sechs Millionen liegen, ein problematisches Konkurrenzverhältnis zum Holocaust. Auch daran sieht man, dass die Frage des Genozids nicht primär eine geschichtswissenschaftliche ist,

21/28
sondern eine politische: es geht um die Anerkennung des massenhaften ukrainischen Leidens, das über Jahrzehnte geleugnet oder relativiert wurde und außerhalb der Ukraine kaum bekannt ist.

22/28
Es ist wohl kein Zufall, dass der Bundestag 2019 eine entsprechende Petition noch abgelehnt hat, es jetzt aber im Angesicht des russischen genozidalen Kriegs gegen die Ukraine auf eine Anerkennung des Holodomor als Völkermord hinausläuft. 2019 war die Begründung für die

23/28
Ablehnung, dass der Holodomor vor der UN-Konvention von 1948 stattgefunden hat. Das mag juristisch relevant sein, geschichtswissenschaftlich aber nicht. Die meisten Historiker:innen sind sich schon länger einig, dass der Holodomor auch gegen die Ukraine als Nation ge-

24/28
richtet war und zu genozidaler Gewalt gegen Ukrainer:innen führte. Aus historischer Sicht muss nicht zwangsläufig die UN-Definition von 1948 maßgeblich sein, Historiker wie Norman Naimark bevorzugen einen weiteren Begriff von Genozid, der auch soziale Gruppen einschließt.

25/28
Bemerkenswert ist, dass der Erfinder des Begriffs „Genozid“, der polnisch-jüdische Jurist Raphael Lemkin, davon überzeugt war, dass der Holodomor ein „klassisches Beispiel eines sowjetischen Genozids“ war, so formulierte er es in einer Vorlesung in den USA im Jahr 1953.

26/28
Er sah den Holodomor als Höhepunkt einer sowjetischen genozidalen Politik gegenüber der Ukraine, die in der Tradition des Zarenreichs stand. Einen guten Einstieg in die Debatten, gibt es in diesem Beitrag des Historikers Andrij Portnov: zeitschrift-osteuropa.de/hefte/2020/1-2…

27/28
Es gibt vieles, was wir über den Holodomor immer noch nicht wissen. Leute wie @JohnVsetecka arbeiten daran, die Lücken zu schließen. Für Deutschland ist wichtig, dass in Schulen & Universitäten mehr über die Geschichte des Holodomor und insgesamt der Ukraine gelehrt wird.

28/28

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