Seit 25 Jahren versuche ich, die größte Krise der Menschheit zu verstehen und zu einer Lösung durch Wissen beizutragen. In dieser Zeit hat sie sich von Klimawandel zu Klimanotstand radikalisiert. Wie hält man das aus & was hat das mit meinen Erkenntnissen gemacht? Langer 🧵 1/24
Sowohl Klimapolitik als auch meine berufliche Beschäftigung damit haben harmlos begonnen. In den 1990er Jahren dachte man noch, wir haben viel Zeit (bis 2100) den „Klimawandel“ einzudämmen und das werde langsam aber sicher gut gehen, so wie immer bisher... 2/
Ich habe mich 1996-97 aus Interesse fürs Thema entschieden - und weil mir klar war, dass uns das lange beschäftigen wird. Ich erwartete eine zyklische aber doch stetig zunehmende Dynamik, aber es kam anders. Die 1. Dynamik kam erst 2008, die 2. erst 2019, beide zu schwach... 3/
Zu abstrakt & weit weg war das Problem. Schon Mitte 1990 fiel auf, dass 1. politische Ziele verfehlt wurden. Es deutete sich an, dass das schwierig wird. Noch waren aber alle unbesorgt. Ich nicht, aber ich hätte mir damals nicht vorstellen können, wie belastend das Thema wird. 4/
In den 2000ern spielte Klimaschutz in der öffentlichen Debatte so gut wie keine Rolle. Auf Projektmittel angewiesen folgte ich dem Diskurs, und der trieb viele für Jahre in Richtung Nachhaltigkeit und CSR. Aus heutiger Sicht ein gesellschaftliches Ablenkungsmanöver, denn: ... 5/
Noch nie in der Geschichte haben wir so un-nachhaltig gelebt als in jener Zeit, in der wir am meisten über Nachhaltigkeit diskutiert haben, mit einer Ausnahme: heute, mit noch mehr Verschmutzung als damals. Rückblickend war 1998-2007 das 1. verlorene Jahrzehnt. 6/
Damals hat mich das nicht sonderlich besorgt. Ich dachte CSR habe Potential, konnte das Ablenkungsmanöver nicht voll durchschauen - und es war ja noch Zeit, das Klimaproblem zu lösen. Nicht 1,5C sondern 2C war das Limit, und der Spielraum dorthin noch sehr groß. 7/
2008 kam das Klima-Thema kraftvoll zurück, v.a. durch den Film von Al Gore und den Friedensnobelpreis für ihn und das IPCC. Schon zuvor habe ich mich dazu entschieden, nur noch zu Klimapolitik zu forschen. Ein Wechsel an die @BOKUvienna hat das sehr erleichtert. 8/
Zudem: Irgendwann musste es ja mal losgehen mit der Ernsthaftigkeit - und 2008 sah sehr vielversprechend aus. Dann folgte von 2009 bis 2018 das 2. verlorene Jahrzehnt in der Klimapolitik (ja, Paris ist Teil des Problems statt der Lösung). Warum weitere 10 verlorene Jahre? 9/
Ab 2009 jagte mit Finanz-, Euro- und Migrationskrise ein akutes Problem das andere und Klima rückte mit kurzen Ausnahmen rund um die Konferenzen in Kopenhagen 2009 und Paris 2015 weit in den Hintergrund. Es gab noch kaum Impacts, dafür einen SUV-Boom inkl. Rebound-Effekt. 10/
Das war für mich zwar zunehmend besorgniserregend, aber ich war in der Zeit auf einer befristeten Stelle v.a. mit meiner Laufbahn beschäftigt. Projekte und Publikationen standen im Vordergrund, sehr viele davon zu Anpassung statt zu Mitigation. 11/
Während KollegInnen das Paris-Abkommen 2015 euphorisch begrüßten, wurde mir damals klar, dass das so nicht funktionieren wird und dass wir in größten Schwierigkeiten sind. Ich machte noch 1-2 Jahre weiter mit Policy-Forschung, war damit aber zunehmend frustriert weil sinnlos. 12/
2017/2018 wurde mir endgültig klar, dass wir ein grundsätzliches Problem hatten, das man sehr grundlegend betrachten muss. Ich wechselte den Fokus meiner Arbeit in Richtung Sozio-Psychologie der Klimapolitik und konnte damit bei meiner Masterarbeit aus 1997 anknüpfen. 13/
Nach einem verlorenen Jahrzehnt kam 2019 die Klimabewegung erstmals richtig in Fahrt – für mich nach 24 Jahren überraschend zu spät. Dennoch: das war das positivste Jahr meiner Laufbahn weil man kurz glauben konnte, dass wir es jetzt endlich ernsthaft & schnell angehen. 14/
Dann kam die Pandemie, dann der Emissionsanstieg 2021, dann Krieg & Gaskrise - mit neuen fossilen Subventionen & massiven Investitionen in fossile Infrastruktur & Fossil-Lobbying. So stehen wir nun einer zunehmend brutalen Realität gegenüber. 15/
Die hohen Preise für Fossilenergie werden Klimaschutz voranbringen, aber viele anderen Entwicklungen (u.a. Subventionen & fossil-Investitionen) werden diesen Fortschritt dämpfen. Alle Prognosen sagen derzeit: Klimakatastrophe ... 16/
Während Pandemie & Gaskrise gezeigt haben, wie entschlossene und ernsthafte Krisenbekämpfung aussieht, muss man nüchtern sagen: nichts davon haben wir auch nur annähernd in der Klimakrise jemals gesehen - obwohl das Problem enorm eskaliert, unbemerkt. 17/
Nach der erwartbar gescheiterten #COP27 & vor der erwartbar scheiternden #COP28 in einem Ölstaat belastet mich die Klimakrise wie nie zuvor, beruflich & persönlich, tagtäglich. Es sieht gar nicht gut aus, dabei wäre so viel möglich wenn das Tempo ... 18/
So bin ich mir heute sehr sicher, dass meine Analyse aus 1999 mehr denn je stimmt: die dringend nötigen Lösungen werden nicht von oben von Klimakonferenzen kommen. Wirksame Klimapolitik kommt entweder durch Druck von unten oder sie kommt gar nicht bzw. viel zu spät. 19/
Für diesen Druck gibt es v.a. 2 Möglichkeiten:
1) Massenbewegungen wie 2019
2) Ziviler Widerstand durch kleinere Gruppen.
Option 1 wäre erfolgsversprechender, funktioniert aufgrund von Krisen-Müdigkeit aber gerade nicht. Also bleibt derzeit nur Option 2, leider. 20/
Hinter meiner Unterstützung v zivilem Widerstand steckt also viel Verständnis dazu, warum die Klimakrise weiter eskaliert. Zudem gilt für mich: ich habe nichts mehr zu verlieren, außer Zukunft (v.a. für meine Kinder). "All in" sozusagen, fast denn... 21/
Natürlich frage ich mich längst, ob ich mich ebenfalls an zivilem Widerstand beteiligen sollte. Noch glaube ich, dass eine Arbeitsteilung zwischen Aktivismus & Wissenschaft sinnvoll ist, dass es mehr bringt, wenn sie von außen Rückhalt bekommen. 22/
Vielleicht ist das eine feige Ausrede. Vielleicht ändert sich das noch. Ich weiß es ehrlich gesagt nicht - noch nicht, und der Aktivismus von WissenschafterInnen wie Peter Kalmus beeindrucken mich sehr. 23/
So war das, sich 25 Jahre mit Klimapolitik zu beschäftigen: immer frustrierend, nicht immer so belastend wie jetzt. Das wäre auch kaum auszuhalten gewesen. Abwehrmechanismen haben ihren Sinn – wenn man sie rechtzeitig überwindet... Genau damit beschäftige ich mich aktuell. 24/24 Deckblatt "The Climate Dissonance Theory" URL http
Links zu den beiden im Thread genannten Publikationen. Ein Paar Autorenexemplare zur Masterarbeit aus 1997/1998 hätte ich sogar noch, falls sie ein paar Historiker interessiert ;-)
1999: boku.ac.at/fileadmin/data…
2021: boku.ac.at/fileadmin/data…
Korrigierter Link zu 1999: boku.ac.at/fileadmin/data…
Weitere Veröffentlichungen zu allen genannten Themen:
boku.ac.at/wiso/infer/pub…
&
researchgate.net/profile/Reinha…

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Dec 2
Nur 1 v 93 emissionsmindernden Empfehlungen umsetzbar, das übertrifft sogar meine kritischen Erwartungen. Demokratiepol. Schaden: immens. Nutzen: nahe 0. Wer sagt den KimarätInnen, dass es das traurige Ende eines nie zu Ende gedachten Polit-Spiels ist? tvthek.orf.at/profile/Report…
Für mich am verwunderlichsten: Gewessler steht voll für die Blockade ihres Koalitionspartners ein, kritisiert sie nur ansatzweise in Ausnahmen. Message-Control geht offenbar vor allem anderen. Umgekehrt ist das z.B. bei Asyl in der Form schwer vorstellbar.
Das und viel mehr ist der Hauptgrund dafür, dass einige v.a. junge Menschen sich das nicht länger gefallen lassen und zivilen Widerstand ausüben. Auch wenn der Nutzen dieser Aktionen noch unklar ist: die Verzweiflung ob dieser Situation gibt ihnen voll und ganz recht.
Read 4 tweets
Nov 30
"All unsere Freiheiten & Rechte heute wurden durch zivilen Widerstand in der Vergangenheit erkämpft. Unser Überleben in Zukunft hängt von zivilem Widerstand heute ab. Somit ist das die wichtigste Tätigkeit auf Erden." @GeorgeMonbiot 🔥 via @XRebellionUK
Hätte ich vor 10 Jahren gedacht, dass wir die Klimakrise nicht anders lösen werden und ich diese Interpretation teile? Nein. In der derzeitigen Situation sehe ich tatsächlich keine Alternative zu zivilem Widerstand - außer Resignation. Dafür ist in 10 Jahren auch noch Zeit genug.
Wem das zu radikal ist: Bitte bedenken, dass ich mich mit dem Thema seit 25J beschäftige und erst jetzt an dem Punkt angekommen bin - aus einem einfachen Grund. Laut IPCC gilt: "Its now or never", dass Emissionen stark sinken. Tun sie aber nicht. Ergo: Aktion oder Resignation. Image
Read 4 tweets
Nov 27
Das schöne an @AufstandLastGen @letztegenAT: die Bewegung zeigt peinlich genau auf, wer die Dramatik der Klimakrise verstanden hat & wer nur so tut als ob. Lanz war eines der ersten Outings und täglich folgen mehr. Allein das ist ein wertvoller gesellschaftlicher Kompass! 👏 1/8
Ja, "der Weltuntergang" wurde schon oft irrtümlich angesagt. Aber die aktuellen Prognosen und Warnungen unterscheiden sich davon in zwei wesentlichen Punkten. 2/
1) Die Erde wird nicht untergehen sondern sich weiterdrehen; auch die Menschheit würde vermutlich noch lange überleben können, in welcher Zahl weiß allerdings niemand. Das bestimmen wir in den kommenden Jahren und Jahrzehnten. 3/
Read 8 tweets
Nov 11
Was in der Klimakrise als "Ideologie" abgetan wird, sind oft evidenz-basierte Positionen, die einem nicht passen.
Beispiel 1: Tempo 100. Die geballte Evidenz sagt, dass die Maßnahme sinnvoll und dringend nötig wäre, um Klimaziele zu erreichen. ÖVP, FDP uva. sagen: "ideologiegebrieben" - und disqualifizieren sich damit selbst zu Klima-Schwurblern, die alternative Fakten zu haben scheinen. Image
Beispiel 2: neue Erschließungen von Öl- und Gasvorkommen als "ideologiefreie Energiepolitik" führt laut IPCC, IEA, dem UN-Generalsekretär ... direkt in die Klimakatastrophe. Das ist harte Evidenz, die man auch in CO2-Budgets ausrechnen kann. Image
Read 6 tweets
Nov 11
Pointierter wirds nimmer: das ORF-Magazin Eco stellt sich "Mit Vollgas in die Klimakrise" inhaltlich auf die Seite der @letztegenAT und die Klimaministerin gibt zum Thema kein Interview (weil die ÖVP auch große Teile der Verkehrspolitik dominiert). tvthek.orf.at/profile/Eco/11…
Bei aller Kritik an der ÖVP, die ich leider zu oft üben muss, eines muss man der Partei lassen: sie kann Machtpolitik sogar dann noch, wenn sie völlig geschwächt am Boden liegt & nichts mehr fürchtet, als Neuwahlen. Umgekehrt schaffen es die Grünen nicht, diese Schwäche zu nutzen
Ganz anders @profilonline über @letztegenAT. Da steht unter der Überschrift "Die Ideologie": "Es genügt, wissenschaftliche Prognosen über den Klimawandel als extrem wichtig zu sehen". Lieber @neuholder, das ist für sie "Ideologie"?
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Nov 10
COPs werden erst liefern, "wenn Regierungen entweder Druck von einer Mehrheit der Bevölkerung oder von ernsthaften Klimaschutzauflagen durch den Welthandel bekommen". Bis dahin werden wir so tun, als ob Klimaschutz wichtig sei. Interview Salzburger Nachrichten, 9.11.22, S20: Image
@BOKUvienna @S4F_AT @S4F_Wien @ViennaForFuture @klima_vb @parents4future Hier noch jene Teile des Interviews, die online stehen, aber leider hinter einer Paywall. Image
Wird wirksame Klimapolitik je mehrheitsfähig sein? 😬 Image
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