Der heutige #KlassikerDerWoche - Gustav Mahlers III. Symphonie. (1/21)
Gustav Mahler schrieb 4 Jahre an seiner III. Symphonie (1892-1896), was eine sportliche Zeit dafür ist, wenn man bedenkt, dass er damit nichts weniger als eine ganze Welt erschaffen hat. (2/21)
Kennengelernt hab ich das mit 11 Jahren im Radio, eines Abends im Nebenraum einer langweiligen Erwachsenen-Feier, danach wusste ich: es gibt noch mehr Welten als diese. Seitdem hat sie mich nie mehr losgelassen. Hier 1 mickriger Versuch, diese Welt ein wenig zu kartieren. (3/21)
Mit dem ersten Satz sprengte Mahler gleich alles, was jemals grob als „Sonatenhauptsatz“ durchging. Für den Satz nimmt er sich 900 Takte und über 30 Minuten Zeit - soviel wie eine ganze Symphonie bei anderen Komponisten. (4/21)
Grimmiges Hornthema, unheilvolle Paukenschläge wie aus den Minen von Moria und langsam, es ist, als ob das Orchester ein paar Mal sehr schwer durchatmet. Sehr sehr langsam und schleppend, macht sich ein Marsch auf. (5/21)
Fanfarenfragmente schwirren verwirrt durch die Gegend, Tänze werden angedeutet, es gibt krasse jump scares, ab und zu kachelt die Musik in einen Abgrund, taucht wieder auf. Themen kreisen wie Planeten durch die Gegend, schlagen ineinander ein. (6/21)
Langsam wird hier eine Art verdrehtes Riesengebäude gemauert, halb Piranesis »Carceri«, halb »Sagrada Familia«, eine seltsam verkorkste Logik. Die ganze Sache ist in der Gesamtheit ziemlich leise (es gibt sehr viele sehr zarte Passagen für Sologeige)...(7/21)
dann werden wieder Feuerstürme und Unwetter entfesselt. Irgendwann entwickelt sich die Durchführung in einen knalligen Marsch, der alle bisher vorgestellten Fragmente mitnimmt und zusammenschweißt. Jetzt wird der ganze Kram nach allen Regeln der Kunst durchgeführt... (8/21)
...bis kein Stein mehr auf dem anderen ist und nach viel Hin und Her (sehr aufregendem Hin und Her) klabastert der Satz auf Lautstärke 11 dem Ende zu. (9/21)
Jetzt kann man die Frisur, die vom Getöse auf der Bühne ganz verstrubbelt ist, richten und erfrischenderweise schließt sich ein Menuett an, im niedlichen Wiener Ländlerton. Gerade noch wurden vorne Monumentalbauten errichtet und jetzt... (10/21)
kommt erst einmal etwas harmloses Getupfe im Dreivierteltakt. Mahler wäre ja nicht Mahler, wenn er nicht zwischendurch die ganze Seligkeit mit allerlei Glöckchen, kleinen Marschkapellen und so weiter zerschießen würde, wie so kleine Mäuse, die durch den Festsaal flitzen. (11/21)
Und dann sind sie wieder weg und Gustav schaut euch mit seinem „War da was?“-Blick an.

Der dritte Satz ist wieder so ein leicht angefinsterter Tanz, sehr zart, wie ein Streifzug durch die böhmischen Wälder. (12/21)
Stell dir vor, du schläfst ein und träumst von tausend lustigen Tiere und psychedelische Pilzen. So klingt das. Und noch im Traum hält Gustav plötzlich die Musik an und was ist das??! (13/21)
Ein Posthorn hinter der Bühne spielt dir minutenlang eine Idylle, die nur deshalb nicht in Komplettkitsch kippt, weil das Orchester (ganz leise) auch noch dies und das zu sagen hat. Er lässt sich richtig Zeit. Schließ die Augen und entspann dich, es wird noch aufreibend. (14/21)
Nichts läge jetzt näher, als »Zarathustras Nachtlied« (»O Mensch! Gib acht! Was spricht die tiefe Mitternacht«) zu 10 Minutem zartem orchestralem Dröhnen von einer Altstimme singen zu lassen. (15/21)
»Aus tiefem Traum bin ich erwacht« - ja klar, gerade waren wir ja auch noch im Psychowald. Zeit, in die Dunkelheit zu fallen. Diese Musik rauscht wie ein Komet durch die Schwärze. Ganz schön frisch hier draußen. (16/21)
Wenn wir jetzt schon die Augen offen haben, sehen wir in eine Art Albrecht-Dürer-Himmel, wo Gustav uns einen ganzen Engelchor hingestellt hat, der zu Röhrenglocken und seiner lustigsten Musik ever das Lied von den himmlischen Freuden singt, nebst viel »Bimm! Bamm!« (17/21)
Es ist weird, ausgesprochen ergreifend und federleicht (ein wenig runzelt das Orchester die Stirn bei der Stelle »Ich hab übertreten die zehn Gebot’« und spendiert uns einen kleinen Blick in den Orkus, aber sehen wir es nach). (18/21)
Der ganze Segen verklingt mit Glöckchen, Flöten und noch mehr Bimmbamm himmelwärts. Was haben wir nur geraucht?

Der letzte Satz ist dann ein Adagio, das in der Partitur mit »Langsam. Ruhevoll empfunden« maximal unzureichend beschrieben worden ist. (19/21)
25 Minuten wortloser Blick in den Himmel. Alles fügt sich, von hauchzart zu riesengroß, in meisterlichstem Kontrapunkt. Eine finale Zusammenfassung aller Schön- und Schrecklichkeiten der Welt. Stille, Erhabenheit, Trauer und Erlösung. (20/21)
Wenn alles Schöne und schrecklich Schöne von der Welt verschwinden würde, könnte man sie anhand von Mahlers Dritter wieder aufbauen. (21/21)
So, das war's von mir mit dem #KlassikerDerWoche, hört mal rein, nehmt euch die 90 Minuten, schaudert und staunt. (22/21)

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