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Dec 27 29 tweets 5 min read
Die erneute Diskussion um ein Ende der Pandemie, ein weiteres Lehrstück miserabler Wissenschaftskommunikation. Ein Thread. Late to the party, aber es waren ja Feiertage... 1/
Was Drosten dem "Tagesspiegel" sagte: dass wir die erste endemische Welle erleben, und dass die Maßnahmen richtig gewesen seien. 2/
Was davon übrigbleibt: Schlagzeilen allerorten "Drosten sagt: Pandemie vorbei!!11!". Und ein Brief des Bundesjustiz- an den Gesundheitsminister, dass nun aber pronto die verbliebenen Restmaßnahmen aufgehoben gehörten. Masken runter, aber pronto!
Nun ja. 3/
Vielleicht kann man jetzt schon, vielleicht in Kürze für Deutschland von einem Ende der Pandemie sprechen. Wobei die Pandemie ja eigentlich etwas Weltweites ist, und da ist es immer noch die WHO und nicht Professor Drosten, die deren Ende feststellt. 4/
Aber sicherlich ist es langsam so, dass Sars-2 in Deutschland in großen Teilen auf eine nicht mehr immunologisch naive Bevölkerung trifft.
Aber sicherlich ist es langsam so, dass Sars-2 in Deutschland in großen Teilen auf eine nicht mehr immunologisch naive Bevölkerung trifft. 5/
Endemisch ist ein Virus, wenn es "en demos", "im Volke", aktiv ist. Beständig oder immer wieder, und auf eher hohem Niveau. Die Endemie ist also nicht der Zustand, in dem wir alles hinter uns haben. 6/
Sondern das Erreichen der Endemie ist der Punkt, an dem unsere Bemühungen, eine Einnistung des Erregers zu verhindern, final erkenbar erfolglos sind. 7/
Endemisch sind in Deutschland HIV, die Masern, Influenza oder die Erreger von Borreliose und FSME. Alles keine banalen Erkrankungen, alles Erreger, gegen die man sich tunlichst schützt und bei denen teils strenge Schutzvorschriften gelten - bei Masern z. B. eine Impfpflicht. 8/
Wenn Sars-2 nun ebenfalls bei uns endemisch wird, ist das allein also weder Grund zur Entspannung noch zur Entwarnung. 9/
Was wir beobachten müssen, sind die negativen Folgen. Da ist erst einmal zu konstatieren: die schwersten Folgen, Tod und Intensivstation, sind mit der steigenden Immunisierung zurückgegangen, vor allem im Vergleich zur Zahl der (vermutlichen) Infektionen. 10/
Viel weniger stark gesunken sind die "einfachen" Hospitalisierungen. Die lagen in der 49. KW mit knapp 9.000 auf durchaus vergleichbarem Niveau wie in der 49. KW 2021 (9.800) oder 2020 (9.300). 11/
Daran ändert auch der Umstand nichts, dass da - folgt man skandinavischen Daten - wohl rund 1/3 "mit, nicht wegen Covid"-Fälle dazwischen sind - es bleiben rund 6.000 Krankenhauseinweisungen "wegen" Covid, mit einer gewissen Konstanz, und die macht ja gerade die Endemie aus. 12/
Sprich: der gestiegene Immunschutz verringert zwar die Zahl der extremen Folgen, aber die Belastung für das Gesundheitssystem (und da sind die ambulanten Praxen ja noch gar nicht angeschnitten) bleibt bei hohen Fallzahlen dennoch erheblich. 13/
Kommen diejenigen Folgen hinzu, die noch kaum erforscht und daher weniger diskutiert sind: LongCovid, PostCovid und die Frage, ob Sars-2 - wie die Masern - das Potenzial hat, das Immunsystem auf Monate zu schwächen&uns damit für eine Fülle anderer Erreger anfälliger zu machen.14/
Gleichzeitig ächzt das Gesundheitssystem aktuell unter der Dreifach-Welle von Influenza, RSV und Covid-19, sind gerade Kinderkliniken massiv überlastet, liegen kranke Kinder auf Fluren, sterben teils, weil sie nicht mehr angemessen versorgt werden können. 15/
Und die Zahl der freien Intensivbetten ist wochentags auf einem Rekordtief von weniger als 1.800 Betten bundesweit - gerade mal achteinhalb Prozent der insgesamt verfügbaren Betten. 15% freie sollten es eigentlich mindestens sein. Planbare OPs werden schon wieder verschoben. 16/
Das ist vielleicht keine Situation, in der man mit dem Schlachtruf "Eigenverantwortung!!1!!" noch die letzten Schleusen öffnen sollte. Oder den Menschen signalisieren, dass es auf Impfschutz, Masken, Tests und Vorsicht nicht mehr ankäme. 17/
Auch wenn Covid-Fälle nicht den größten Anteil haben mögen: das Gesundheitssystem hat für zusätzliche Kranke im Moment einfach zu wenig Plätze anzubieten. 18/
Mal abgesehen davon, dass es für die besonders schutzbedürftigen Gruppen ein ziemlicher Tritt in die Beine ist, wenn jetzt unter dem Stichwort "Eigenverantwortung" auch die letzten Maßnahmen aufgegeben werden sollen. 19/
Denn die können sich halt allein kaum ausreichend schützen, die sind auf Solidarität angewiesen. Der vielzitierte "Schutz der besonders Schutzbedürftigen" scheint eine solche solidarische Komponente allerdings immer weniger zu beinhalten. 20/
Immer häufiger klingt "Schutzbedürftige schützen" dagegen nach "ja, dann sperr dich halt ein". 21/
Der Übergang zur Endemie stellt sich, so betrachtet, weniger als Anlass dar, die Champagnerkorken knallen zu lassen. 22/
Der Eintritt in die Endemie ist vielmehr Ausgangspunkt für aufmerksame Betrachtung, was die permanente Anwesenheit von Covid-19 für uns immunologisch, gesundheitsökonomisch und auch volkswirtschaftlich bedeuten wird. 23/
Ganz abgesehen davon, dass in China soeben das weltgrößte Labor für mögliche neue Varianten eröffnet worden ist - und wir nicht den geringsten Einblick haben, was dort abläuft. 24/
Denn nicht nur die Veröffentlichung der Inzidenzen und Sterbezahlen, sondern offenbar auch die Sequenzierungen sind in China eingestellt worden. Autokratien können halt doch noch schlechter Pandemie als Demokratien, so viele Beine wir uns selbst auch gestellt haben bis hier. 25/
Oh, übrigens, und die WHO ruft weiterhin zu Maskentragen und Abstandhalten auf.
#StaySafe #CovidIsNotOver #ProtectTheChildren 26/26
PS: Während die mediale Kommunikation über das Drosten-Zitat gründlich misslungen ist, lohnt sich die Lektüre des vollständigen Drosten-Interviews in vielerlei Hinsicht durchaus. Weil er viel mehr sagt als den einen (bewusst?) missverstandenen Satz. 27/26

PS 2: Der "Marburger Bund" ist auch alles andere als amused über den Vorschlag, nun mitten im Winter die letzten Maßnahmen sausen zu lassen und dem Klinikpersonal weitere Schwerstarbeit aufzubürden. 28/26

rnd.de/politik/corona…
PS 3: im vollständigen Drosten-Interview findet sich übrigens auch eine der ersten Auseinandersetzungen in der deutschen Debatte mit der Frage von Immunschäden bei Kindern durch Sars-2. Lesenswert, nur leider kaum zitiert. Screenshot aus dem Drosten-Interview im Tagesspiegel vom 27.

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Nov 5
Die toxische Ideologie der Stärke, und warum sie uns den Kampf gegen Corona verlieren lässt. Ein Versuch in einem Thread.

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Ich: Nee.
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1/13
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corona-kita-studie.de/aktuelles/absc…
Wie kann man, um nur ein Beispiel herauszugreifen, seitenlang darüber sinnieren, dass die Sars-2-Inzidenz 0-5j während des Wildtyps deutlich niedriger als die aller anderen Altersgruppen war, und unter Delta und Omikron jedenfalls noch niedriger als die von Schulkindern? 2/5
Wie kann man das machen, ohne EINMAL zu erwähnen, dass es bis Frühjahr 2021 überhaupt keine Schnelltests gab, dass Kleinkinder viel seltener PCR-getestet wurden, Schulkinder dagegen spätestens ab Sommer 2021 die am besten durchgetestete Gruppe überhaupt gewesen sein dürften? 3/5
Read 6 tweets
Sep 22
@robilad "In den allermeisten Fällen." Nun, zum Glück gibt es für alle, die nicht in dieser "Arbeits"gruppe sind, Daten, so dass man nicht mit vagen Begriffen arbeiten muss. Danke ans vielgescholtene @RKI_fuer_Euch, das diese Daten still und effizient zusammenträgt & zur Verfügung stellt.
@robilad @RKI_fuer_Euch Die Impfeffektivität hat sich in den verschiedenen Wellen demnach etwas gewandelt. In den aktuellsten Zahlen vermindert die Dreifachimpfung das Hospitalisierungsrisiko
- bei 12-17j auf etwa die Hälfte,
- bei 18-59j auf etwa ein Drittel,
- bei >60j auf etwa ein Siebtel. Image
@robilad @RKI_fuer_Euch Da kann dann jeder selbst entscheiden, ob er das "die allermeisten" findet, wenn die Hospitalisierungsinzidenz entsprechend absinkt. Empfehlenswert ist die vollständige Impfung allemal, die Restrisiken sind aber eben auch noch messbar. Covid is a bitch.
Read 7 tweets
Sep 14
Wenn jetzt von einigen gefordert wird, die Quarantäne aufzuheben ("wer sich krank fühlt, bleibt zu Hause, sonst nichts"), dann ist das ein Rückfall. In Zeiten, als wir noch kaum etwas von Covid-19 und nichts von LongCovid wussten. 1/5
Es verkennt zudem die sozialen Realitäten. "Krank zu Hause bleiben", das leisten sich die, deren Job ungefährdet ist, die sich dank ihrer guten Qualifikation und sozialen Stellung keine Sorgen machen müssen. 2/5
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Sep 13
Die WHO schätzt, dass 17 Mio. Menschen in Europa in den letzten zwei Jahren von #LongCovid betroffen waren. Sechzehn Prozent der bekannten Infektionen. Einer von sechs infizierten Menschen. 1/5

tagesschau.de/ausland/europa…
Selbst wenn bei den meisten die Symptome irgendwann zurückgehen, ist der Verlust an Arbeitskraft, Wirtschaftsleistung, privater Lebensqualität gigantisch.

Und bei vielen wissen wir noch nicht, ob Atemnot, Brain Fog und Fatigue chronisch bleiben werden. 2/5
Hans Kluge, der europäische Regionaldirektor der WHO, forderte ein verstärktes Engagement der Länder, um den Betroffenen zu helfen. "Sie dürfen nicht weiter im Stillen leiden. Regierungen und Gesundheitspartner müssen zusammenarbeiten, um Lösungen zu finden." 3/5
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