Denkmäler stürzen. Auch bei mir ist das so. Bei mir stürzte schon vor längerem Alexander Solschenizyn, der verstorbene Autor des "Archipel GULAG", ein Jugendidol - im Zuge des Ukrainekriegs ist er nun endgültig verloren für mich. Warum? Ein 🧵
de.wikipedia.org/wiki/Alexander…
Seit dem 24.2.22 wird er gerne falsch zitiert, weils zur russischen Propaganda passt:
"Wir wissen, sie lügen. Sie wissen, sie lügen. Sie wissen, dass wir wissen, sie lügen. Wir wissen, dass sie wissen, dass wir wissen, sie lügen. Und trotzdem lügen sie weiter."
Nur: Das Zitat stammt gar nicht von Solschenizyn.
falschzitate.blogspot.com/2022/05/wir-wi…
volksstimme.de/kultur/buch/di…
Auf Twitter ist das natürlich egal, es wird weiterzitiert. Dafür kann er nichts.
Solschenizyn ist eine Ikone. Als politischer Schriftsteller. Der Nobelpreis für Literatur (1970) hat das sowjetische Straflagersystem “GULAG” weltweit auf die Agenda gesetzt. 20 Jahre, von 1974 bis 1994,
befand er sich im Exil, kurz als Gast von Heinrich Böll, den größten Teil in Vermont (USA). 1994 kehrte er nach Russland zurück. Zur Ukraine fiel ihm auch einiges ein (später dazu).
Idolen schreibt man auch Gutes falsch zu. Weil es passt. Solschenizyn war nie ein Anhänger westlicher Demokratie. Klappentext seiner “amerikanischen Jahre” (dt. 2007): “In Amerika war ich nicht in der wahren Freiheit…
...Meine Freiheit war, dass ich nicht durchsucht wurde und über alles schreiben konnte…Vielleicht würde ich noch lange, sogar bis zu meinem Tod, nicht wieder russischen Boden betreten können – den amerikanischen aber konnte ich nicht als den meinen empfinden.
Ohne feste Erde unter den Füßen, ohne sichtbare Verbündete. Zwischen zwei Weltmächten, im Mühlwerk”.
Hier finden sich bereits viele Stichworte, die auch russische “Hardliner” um Putin heute - und seit Jahren - verwenden.
Die Liebe zur Heimat klingt nicht lediglich verklärend, wenn man existenten russischen Nationalismus in die Betrachtung einbezieht. Auch russischer Antiamerikanismus, auch die Beschwörung der Weltmacht Russland, sind bekannte Elemente.
Ähnlich wie Putin hielt er am “Westen” pauschal vieles für moralisch verkommen, dekadent und für Russland völlig ungeeignet. Im ”Archipel” finden sich Passagen der Bewunderung von “kaukasischen Völkern”, die Angriffe auf die “Ehre” mit Gewalt (meist Tod) ahnden.
Im heutigen Diskurs würde man solche Aussagen sehr kritisch rezipieren. Wer heute die “Erklärung” Solschenitzyns von 1999 zum Eingreifen der NATO im früheren Jugoslawien liest, reibt sich die Augen:

taz.de/!1293567/
Lässt man das Datum und die Region weg, könnte der Text direkt aus dem Russischen Außenministerium kommen und sich auf den Angriff in der Ukraine beziehen.
Die Nähe zu Putins Gedankenwelt (der besser umgekehrt) kann man in erschreckender Direktheit auch 2007 im SPIEGEL nachlesen. spiegel.de/kultur/literat…
Zu Parteien: “Ich bin ein überzeugter und konsequenter Kritiker des Parteien-Parlamentarismus und Anhänger eines Systems, bei dem wahre Volksvertreter unabhängig von ihrer Parteizugehörigkeit gewählt werden.”
Und zu Russland unter Putin:
“Als Russland wieder zu erstarken begann, reagierte der Westen panisch - vielleicht unter Einfluss nicht ganz überwundener Ängste.”
Jetzt sind wir also mitten im Kreml-Narrativ.
In einem Interview von 2006 äußerte er zur Ukraine:
“Die fanatische Unterdrückung und Verfolgung der
russischen Sprache ist nicht nur eine barbarische Maßnahme, sondern richtet sich auch gegen die kulturellen Perspektiven der Ukraine selbst (...) Rußland hat kein Recht, gleichgültig die russische Bevölkerung mit ihren vielen Millionen Einwohnern in der Ukraine zu verraten.”
Wir wissen positiv, dass diese angebliche “Verfolgung” eine Propagandaerfindung ist. Sie ist Teil der Kriegsvorbereitungen für den 2014 erfolgten Angriff.
welt.de/print-welt/art…
Ansprache zum ukrainischen Unabhängigkeitsreferendum 1991:
"Und keine ihrer Verwünschungen macht unsere Herzen irre an dem heiligen Kiew, des Ursprungs auch der Russen, - von Kiew, wo auch heute unausrottbar die russische Sprache klingt und nicht verstummen wird."
Ich habe mich in der 9. Klasse für Russisch als 3. Fremdsprache entschieden, weil ich von Solschenizyn begeistert war. Im Westen eine eigenwillige Wahl. Die Aufarbeitung der Geschichte, das Interesse an Menschenrechten, vor allem der Antikommunismus haben bei der Rezeption
auch mir aber den Blick auf den russischen Nationalismus verstellt.
Er war immer da. Wir haben auch hier nicht hingesehen. Ich auch nicht.
Eine kritische Rezeption ist in der angelsächsischen Welt, in der er viel populärer als in Deutschland war, ist längst eingeleitet, ein gute Zusammenfassung hier:
spectator.co.uk/article/would-…
Deutschland hatte mit dem Antikommunisten stets gefremdelt, Lew Kopelew und Heinrich Böll waren in der Zeit seiner Ausweisung zu präsent und dem Zeitgeist viel näher.
Für mich bleiben der “Archipel GULAG” und “Der erste Kreis der Hölle” Meisterwerke, die mich geprägt haben. Aber die Person ist für mich erledigt, und ich gebe ungern zu: Es lag an diesem Buch, noch nicht am übersehenen Nationalismus:
Ich empfand es als antisemitisch, aber vor allem steht es in der antisemitischen Verharmlosungsstrategie russischer Nationalisten - für die ich blind war. Pogrome, die historisch gar nicht angezweifelt werden können, werden heruntergespielt und verharmlost.
Dass das dem Narrativ des III. Reichs nahekommt, das gerne den “Bolschewismus” als “jüdische Erfindung” ausgab, hat mir die Sprache verschlagen und mein früheres Idol - versenkt. In Deutschland verhalten freundlich rezipiert,
deutschlandfunk.de/alexander-sols…
Gespräche am Küchentisch 1991, bei denen man mir - dem naiven Westler mit dem ziemlich gestammelten Russisch - erklärte, jene Butter sei aus der Ukraine, diese aber aus russischen Kernlanden, diese solle ich kosten, Russlands Seele sei darin - ich bewerte sie heute anders.
Und verstehe, was Karl Schlögel mit “Russland-Kitsch” meint, der auch bei uns Alltagskonsens war - und teilweise ist.
de.wikipedia.org/wiki/Karl_Schl….
Eine absolut brillante, aber unbequeme Analyse aus dem Jahr 2020 findet sich öffentlich zugänglich in einem Aufsatz von Elisa Kriza hier:

doi.org/10.1111/glal.1….
Die Autorin weist vor allem darauf hin, dass seine literarische Darstellung ihm Zuschreibungen von Positionen einbrachte, die er gar nicht vertrat, von Humanismus bis zur parlamentarischen Demokratie.
Traurig. Ende.
wurde auf den antisemitischen Charakter schon früh eingegangen.

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