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Mar 9 30 tweets 6 min read
Vergesst #Transnistrien! Das eigentlich trojanische Pferd Moskaus in der Republik Moldau heißt #Gagausien. Da leben 160.000 Menschen, die irgendwann aus dem Osmanischen Reich einwanderten.

Über die unbekannteste Region Europas. Ein Thread.👇Conchita Wurst kommt auch vor. (1/n)
Die Fakten: Die Gagausen leben auf 1800 Quadratkilometern im Süden der Republik Moldau in zwei lose aneinanderhängen Gebieten, sie sind orthodoxe Christen und sprechen eine Turksprache. Türken können Gagausisch lesen und verstehen. Die Gagausen leben von der Landwirtschaft. (2/
Die Gagausen sind Nachfahren des Volkes der Seldschuken, muslimischer Reiternomaden aus Kasachstan. Also wahrscheinlich. Ganz genau weiß man es nicht. (3/
Über Bulgarien (wo sie das Christentum annahmen) kamen sie zu Beginn des 19. Jahrhundert nach Bessarabien, also den westlichen Teil Moldaus vom Dnister-Fluss, und zwar in den südlichen Spitz, den sogenannten Budschak. (4/
Der russische Zar Alexander hatte die Gagausen dann in die damalige “russische Welt” geholt und ihnen freien Glauben und Land versprochen. Der Russisch-Türkische Krieg (1806–1812) hatte die dort einstmals ansässigen, muslimischen Nogajer Tataren aus dem Budschak vertrieben. (5/
Budschaks muslimische (autochthone) Tartaren wurden mit christlichen Osmanen getauscht sozusagen. Der nomadische Ursprung der Gagausen ist abstrahiert noch im Wappen und vor allem im Wappentier der Hauptstadt Komrat erkennbar. (6/
In der Sowjetzeit wurden die Gagausen russifiziert. Kindern lernten ab dem Kindergarten russisch, zuhause sprachen die Familien gagausisch. Heute lernen die Pädagogen den Kindern ihre gagausische Muttersprache. (7/
Wobei: Diese ist eigentlich Russisch. Rumänisch, die offizielle Sprache der RM spricht in Gagausien kaum jemand. Gagausisch auch immer weniger. (8/
Russisch, das war, was die vielen Gruppen in der Sozialistischen Sowjetrepublik Moldau zusammen klammerte, die Transnistrier, die Rumänen, und eben die Gagausen. (9/
Dann kam Glasnost und alles weitere. 1990 spaltete sich Gagausien von der damaligen moldawischen SSR ab. Eigentlich wollten die Gagausier einen eigenen Staat bilden und zwar unter der Führung von Stepan Topal 👇(10/
Das klappte nicht. In den wilden frühen 1990er-Jahren lebte Gagausien vier Jahre lang als de facto unabhängiger Staat. Bevor sich die Region 1994 wieder in die Republik Moldau eingliederte (im Gegensatz zu Transnistrien östlich des Dnister-Flusses). (11/
Allerdings handelte sich die Gagausien weitgehende Autonomierechte aus: Eine eigene Verwaltung, eigene Legislative, ein Parlament und Sprachenrechte. (12/
Regiert wird Gagausien von einem (mittlerweile gewählten) Baschkan, also dem Führer. Im Moment ist es eine Führerin, Irina Vlah von den prorussischen Sozilaisten. Die Beziehungen zur Hauptstadt sind schlecht. (13/
Noch im Sommer 2022 erklärte der “Parlamentspräsident” Gagausiens, dass Chișinău die Gagausen vor “32 Jahren in Ketten” gelegt habe. (14/
Das spielt Russland in die Hände. Der Kreml sieht sich als Schutzmacht der turkstämmigen Gagausen. Beziehungsweise diese als Manövriermasse. Der Vorteil für Moskau: (15/
Die Gagausen sind im westlichen Teil der RM, sie sind Teil des dortigen, halbwegs demokratischen Staates. Sie können ihn destabilisieren. Transnistrien hat Chișinău schon abgeschrieben, Tiraspol umgekehrt kaum Einfluss auf die RM (außer beim Erdgas). (16/
Derzeit leiden die Moldauer insgesamt unter einer Wirtschaftskrise und der hohen Inflation von mehr als 30 Prozent. Besonders die Energiepreise sind exorbitant gestiegen. Über Transnistrien wird die RM mit russischem Gas versorgt. (17/
Und - tremolo - um Erdgaslieferungen geht es jetzt auch in der gagausischen Hauptstadt Komrat. Die Gagausen fordern die moldauische Regierung auf, es zu erlauben, dass Russland an Gagausien billig(eres) Gas schicken dürfe. Nach ihren Angaben wäre Gazprom dazu auch bereit. (18/
Die amerikanische Denkfabrik Jamestown Foundation warnt bereits davor, dass Gagausien für die Republik Moldau eine “Krim” werden könnte: Eine russischsprachiges, eng an Russland angebundenes Territorium. Ein trojanisches Pferd im eigenen Land. (19/
2014 jedenfalls haben bei einem Referendum mehr als 90 Prozent der Gagausier gegen eine weitere EU-Anbindung und für stärkere Beziehungen mit Russland gestimmt. (20/
rferl.org/a/moldova-gaga…
Die Gagausen haben ein Problem: Als die Republik Moldau 2014 (wie damals die Ukraine, Janukowitsch, Maidan) das Assoziierungsabkommen mit der Unterschrieb, erließ Moskau ein Embargo auf weite Teile der landwirtschaftlichen Produkte. (21/
Für Gagausien, das vor allem Wein, Sonnenblumenöle und Trockenfrüchte produziert, brach der Exportmarkt weg. (22/
Wirtschaftlich sprang eine andere Schutzmacht ein: die Türkei, sich seither deutlich für Gagausien zu interessieren begonnen hat. (23/
Die türkische Regierung hat in Komrat Altenheime gebaut, Kulturzentren gesponsert und ein neues Fußballzentrum gebaut. Als am 18. Oktober 2018 der türkische Staatspräsident Recep Tayyip Erdoğan mit seiner Frau Emine Gagausien besuchte … (24/
Politisch aber kann die Türkei nicht in Gagausien Fuß fassen (oder will es nicht), dafür ist das gemeinsame Erbe zu kulturell dominiert. Oder einfach zu schwach. (25/
Wo ist in der ganzen Sache eigentlich die EU? (26)
Die EU, sei gut fürs Geld, meinte der frühere und immer noch einflussreiche Baschkan-Führer Mihail Formuzal 2014 in einem einem Interview. Gut für gute Straßen, ja auch für Rechtsstaatlichkeit. Aber eben nicht fürs Herz. (27)
Was solle er seinem Sohn sagen, wenn dieser im Fernsehen einen Mann mit Bart sähe? Also zum Beispiel Conchita Wurst? (28/
Und dann sagte er noch einen Satz: Dass die Gagausen ein Unikat seien: “Wir sind ein Steppenvolk, dass niemals in leibeigen, sondern stets kriegerisch war. Ein Volk, das sowohl das Schwert, das Pferd als auch den Pflug beherrscht hat.” (29/
Und das unter der Fuchtel des Kreml steht. (END)

Bonustrack: Der gagausische Folkrapper Vitalii Manjul:

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infothek.bmk.gv.at/oesterreich-ha…
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