Die Nicht-Anerkennung von ME/CFS durch den Staat und die Medizin fĂĽhrt zur Delegitimation im sozialen Umfeld der Betroffenen. Das bezieht sich auf Familie, Freund*innen, Bekannte, Kolleg*innen und leider auch die Ă„rzt*innen, zu denen die Betroffenen gehen.
Wir haben die Erfahrung wohl alle in einer Form gemacht: Oft hat man jahrelang gar keine Diagnose, bekommt keine Hilfe und die Schwere der Erkrankung wird permanent heruntergespielt und verkannt.
Es erscheint AuĂźenstehenden unlogisch, dass jemand so schwer krank sein kann,
wenn davon weder der Medizin noch den Institutionen oder dem Staat irgendetwas bekannt ist. Solange diese der Erkrankung die Legitimation durch explizite Anerkennung vorenthalten, steht scheinbar Aussage gegen Aussage, und der mächtigeren Seite wird geglaubt, weil wir alle
grundsätzlich glauben wollen, dass der Staat und die Medizin nicht leichtfertig oder unethisch handeln würden, und damit eine so schwere Krankheit auch anerkennen würden, wenn sie real ist.
Dadurch sind die Betroffenen in der absurden Situation, gleichzeitig schwerste Verluste
an Gesundheit und Lebensqualität ertragen zu müssen, aber dafür keinerlei Unterstützung, Verständnis oder Mitgefühl der Gesellschaft insgesamt zu erhalten, worauf man sich bei vergleichbar schweren Krankheiten meist verlassen kann. Man gilt in den Augen der Gesellschaft als
körperlich nahezu gesund, es wird oft unterstellt, dass man nur alltägliche Befindlichkeitsstörungen und psychosomatische Zipperlein hätte, die andere auch erleben, nur dass die sich dabei nicht so "anstellen".
Dadurch entsteht ein klaffender Spalt zwischen dem eigenen
Krankheitserleben, und der Zuschreibung und Wahrnehmung des sozialen Umfelds, dem Betroffenen wird die GlaubwĂĽrdigkeit als Zeuge seines Erlebens und die Deutungshoheit ĂĽber die eigene Geschichte radikal und unwiderruflich aberkannt.
Man wird dadurch praktisch gezwungen, ständig
in zwei sich völlig widersprechenden Realitäten zu leben - in der eigenen, in der man schwerkrank ist und eigentlich dringend Entlastung und Hilfe braucht, und in der Realität der restlichen Welt, in der man als gesund gilt und ständig aneckt, weil man nicht mithalten kann.
Viele versuchen noch jahrelang verzweifelt, ihrer sozialen Rolle gerecht zu werden (auĂźer natĂĽrlich , man ist sofort schwer oder very severe betroffen, dann kann man das gar nicht).
Das führt meist zu einer stetigen Verschlimmerung, bis man endgütlich erwerbsunfähig wird
und meist auch im privaten Umfeld die starken krankheitsbedingten Einschränkungen nicht mehr kompensieren kann.
Das erleben Betroffene von ME/CFS meist zwangsläufig, dennoch ist es unfassbar schwer, sich damit abzufinden.
Man verliert automatisch alle Mechanismen und Möglichkeiten, die man vorher hatte, Anerkennung, Wertschätzung usw. durch die Gesellschaft, das soziale Umfeld und durch persönliche Erfolge oder Leistung zu erlangen. Torrent bezeichnet das als "Verlust des sozialen Kapitals".
Die Verweigerung von Anerkennung fĂĽhrt also regelrecht zur sozialen Ă„chtung, da einen "die Welt nicht mehr versteht", und viele sich deswegen zurĂĽckziehen. Insgesamt fĂĽhrt diese umfassende soziale Desintegration zu starker Isolation und somit zum "sozialen Tod".
Betroffene versuchen oft alles in ihrer Macht stehende, um die Desintegration zu verhindern oder zu verzögern.
Ich finde die Darstellung (Screenshot) etwas vereinfacht, sie trifft auch nicht auf alle zu. Wenn man seine Diagnose kennt, hat man bessere Chancen, sich mit anderen
Betroffenen zu vernetzen, und für Aufklärung und Anerkennung zu kämpfen. Vor der Pandemie war es oft nicht einmal möglich, selbst die korrekte Diagnose zu erfahren, geschweige denn zu erhalten. Auch durch bessere Forschung und beginnende Anerkennung können Betroffene sich gegen
diese aufgezwungenen Diskurse wehren, ohne sozial komplett isoliert zu sein.
Es ist auch eine Art internalisierter Ableismus, wenn man als chronisch Kranker versucht, die schlimmen Aspekte des Lebens mit ME/CFS zu kaschieren oder die soziale und medizinische Unterversorgung zu
beschönigen. Darunter fällt auch "toxische Positivität" und eine übertriebene Darstellung vorgeblicher Möglichkeiten, die Erkrankung durch eigene Anstrengung, Willenskraft oder eine positive Einstellung selbst zu verbessern oder gar ganz zu heilen. Beispiele für solche Diskurse
sind oft alternative Heilansätze, wie der Lightning Process , das Gupta Programm https://t.co/JOA6HqcRkz oder Ernährung nach Anthony Williams.
sich von anderen aus ihrer Gruppe abzugrenzen, um von der Mehrheitsgesellschaft akzeptiert zu werden. Bei Behinderungen und Erkrankungen ist das eine Form von lateralem Ableismus.
Die Gesellschaft nimmt dies auch gerne in der Form von "inspiration Porn" gerne an.
Die Grenzen dazu sind natürlich fließend, und weder ist etwas gegen Versuche eines positiven Umgangs mit der eigenen Situation zu sagen, noch kann man den schwer diskriminierten Betroffenen vorwerfen, dass sie versuchen, doch noch irgendwie an persönliche Anerkennung zu kommen
(nicht im Sinne von Anerkennung der Krankheit, sondern von positivem sozialen Kapital).
Das Problem ist, dass Betroffene ihre Selbstdarstellung und Außenwirkung so filtern, dass sie möglichst Anerkennung erhalten ("good crip") und Stigmatisierung als
"schwierig, meckernd, wehleidig" vermeiden ("bad crip"). Dadurch wird es aber unmöglich, die Schwere der Erkrankung Außenstehenden sichtbar und begreifbar zu machen und Missstände anzuklagen.
Diese Einteilung in "guter Patient, böser Patient" wird
leider auch oft von Ärztys und Angehörigen befeuert, wenn erwünschte Verhaltensweisen/Diskurse gelobt und unerwünschte Diskurse bestraft werden.
Diese Bestrafung erleben wir zum Beispiel, wenn selbstbewusste, fordernd auftretende Patientys häufig als aggressiv, "militant" und
irrational geframet werden. Bisweilen wird den "Diskursverweigerern" unter uns dann auch unterstellt, wir seien selbst gar nicht erkrankt (vielleicht, weil man die Krankheit als solche nicht mehr leugnen kann, seit die CDC und das NICE sie anerkennen).
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Ich möchte aus aktuellem Anlass nochmal darauf hinweisen, dass ich (zusammen mit mind. 2 anderen) von "jemandem aus der Community" in DMs an Dritte beschuldigt werde, Personen auf Discord zu bedrohen und "zu hetzen". Wer solche "Infos" über mich erhält,
sollte der Person bitte ausrichten, dass sie falschen Informationen aufgesessen ist. Die Person war selbst nie auf dem Server, daher kann sie nicht wissen, was dort geschrieben wird.
Es sieht so aus, als hätte jemand einen bekannten Großaccount dazu aufgehetzt, zu glauben,
ich würde auf Discord gegen ihn Stimmung machen und Mitgliedern drohen, die eine andere Meinung haben als ich. Die Vorwürfe sind lächerlich und ehrverletzend, weswegen ich mich dagegen wehren möchte.
Thread über Patientenbeschuldigung in der Medizin 🧵
Patient blaming ist eine Sonderform von victim blaming. Man ist hier nicht Opfer eines Verbrechens geworden, sondern einer Erkrankung, für die man in keinem Fall etwas kann (egal ob psychisch oder körperlich).
Dennoch wird einem dies oft implizit (oder auch explizit) unterstellt, wenn man schwer krank wird und die Therapievorschläge der Ärzt*innen keine Besserung bewirken.
Patient blaming tritt besonders oft bei komplexen, schlecht verstandenen, bisher unheilbaren Erkrankungen
wie ME/CFS oder vergleichbaren Krankheiten auf. Diese Kranken sind besonders oft einer massiven negativen Stereotypisierung und Psychiatrisierung durch Ärzt*innen ausgesetzt. So wird ihnen regelmäßig unterstellt, dass sie ihre Krankheit durch "katastrophisierende Gedanken"
Vor der Pandemie war #MECFS auf Twitter übrigens auch komplett unbekannt, von den selbst Betroffenen und deren Angehörigen einmal abgesehen. Wir haben uns sehr angestrengt, aber die Wand aus Ignoranz konnten wir so gut wie gar nicht durchdringen. Es war, als hätten alle
nicht-betroffenen Accounts uns auf stumm geschaltet.
Durch die Pandemie hat sich das Interesse zumindest vorĂĽbergehend etwas mehr auf ME/CFS gelegt, wodurch jetzt auch ein paar nicht-betroffene Accounts das Thema wahrnehmen. AuĂźerdem ist die "Bubble" massiv gewachsen und
kann weniger leicht ignoriert werden.
Was sich nicht geändert hat, ist selbstverständlich die Wahrnehmung außerhalb des Internets (nur ca. 5% haben überhaupt einen Account auf Twitter). Meiner Wahrnehmung nach wurde das Thema "ME/CFS" eine zeitlang in der No-Covid-Bubble
Das Konstrukt "sekundärer Krankheitsgewinn" ist in meinen Augen perfide, richtiggehend menschenverachtend. 🧵
Die Krankheit nimmt einem fast alles an Lebensqualität und Teilhabe, was für Gesunde völlig selbstverständlich ist. Sich selbst was zu Essen kochen können, sich selbst
waschen? Es ist ganz und gar kein "Gewinn", wenn jemand anderes das für dich machen muss. Es ist erniedrigend und man muss psychisch sehr stark sein, um das auszuhalten. Entweder, es muss eine fremde Person machen, oder ein naher Angehöriger, weil man keinen PG bekommt.
Wenn es mir gut genug geht, einfache Gerichte selbst zu kochen, macht mich das richtig glĂĽcklich. Klar lasse ich mir auch gerne mal ein fertiges Gericht vorsetzen, aber nur ich weiĂź, wie ich Essen gerne mag, und welche Zutaten ich vertrage.
Das Seminar von @DianeOLeary zu diagnostischer Ethik von medizinisch ungeklärten Symptomen (MUS) ist eine wichtige Quelle und die Inhalte des Seminars sollten so viele Ärzte und Patienten wie möglich erreichen.
Für viele ist es schwierig, einem längeren Vortrag zu folgen, Videos und/oder Audio gehen gar nicht mehr, die Konzentration reicht nicht, oder die Sprachbarriere schreckt ab.
Deswegen habe ich den Vortrag ĂĽbersetzt, nicht nur fĂĽr Patienten, auch Ă„rzte lesen vielleicht eher ein
paar Tweets, als sich ein Onlineseminar anzuschauen.
Ich habe das Seminar übersetzt, weil ich es für sehr wichtig halte und so vielen wie möglich zugänglich machen möchte.
Es wird ein sehr langer Thread, ich habe den Inhalt nur leicht gekĂĽrzt und gelegentlich die Formulierungen
Ich möchte gerne zunächst genauer auf die „aufgezwungenen Diskurse“, oder wie man vielleicht auch sagen kann, die „(vermeintlich) gesellschaftlich akzeptierten Diskurse für chronisch Kranke“ eingehen.
Durch die Krankheit verlieren Betroffene jede Möglichkeit, sich in
Diskurse einzubringen, die zu Anerkennung, ja überhaupt zu Beachtung und Wahrnehmung als wertvoller Gesprächspartner führen. Durch den Ableismus in der Gesellschaft werden automatisch Vorurteile und Abwehr aktiv, wenn bekannt ist, dass das Gegenüber an einer unheilbaren,