Ich möchte gerne zunächst genauer auf die „aufgezwungenen Diskurse“, oder wie man vielleicht auch sagen kann, die „(vermeintlich) gesellschaftlich akzeptierten Diskurse für chronisch Kranke“ eingehen.
Durch die Krankheit verlieren Betroffene jede Möglichkeit, sich in
Diskurse einzubringen, die zu Anerkennung, ja überhaupt zu Beachtung und Wahrnehmung als wertvoller Gesprächspartner führen. Durch den Ableismus in der Gesellschaft werden automatisch Vorurteile und Abwehr aktiv, wenn bekannt ist, dass das Gegenüber an einer unheilbaren,
komplexen, schlecht erforschten Krankheit wie ME/CFS leidet. Die Betroffenen werden dadurch sofort als inkompetent und nicht vertrauenswürdig wahrgenommen, zudem als „störend“, da sie Bedürfnisse haben und ggf. diese auch äußern, die die Mehrheitsgesellschaft
lieber ignorieren wollen und die Gesunden lästig und unangenehm sind.
Es ist natürlich je nach sozialer Situation unterschiedlich, welchen Aspekt der Krankheit man nach Außen repräsentiert und wie man sich selbst darstellt. Bei einem Arzttermin hat man nicht die Freiheit,
die aufgezwungenen Diskurse zu verweigern, weil man dann ggf. gar keine/noch weniger Hilfe bekommt oder erneut falsch psychopathologisiert und stigmatisiert wird („hysterisch“, „Hypochonder“, Unglaube, dass man wirklich so schwer krank sein kann, usw.).
Dabei ist es natürlich gerade beim Arzt ungeheuer wichtig, die Krankheit nicht zu beschönigen, damit nötige Renten- und Pflegegradanträge entsprechend formuliert und begründet werden können.
Dennoch ist es unglaublich schwer, einer anderen Person das wahre Ausmaß
der Einschränkungen und qualvollen Symptome offen mitzuteilen. Dazu kommt, dass man dadurch Freunde und sogar nahe Angehörige verlieren kann, die einem einfach nicht glauben und als „toxisch“ wahrnehmen.
Damit haben sie eine Rechtfertigung, einen Schwerkranken „fallen zu lassen“.
Allein durch solche Erfahrungen versuchen Betroffene alles, um von Gesunden akzeptiert zu werden. Eine häufige Taktik dazu ist die "Beschönigung".
Aus der Aufzwingung des Diskurses (bzw. soziale Ächtung der Diskurse, die die Lebensrealität der Betroffenen von ME/CFS widerspiegeln) folgt auf diese Weise "Silencing", also die Unterdrückung der Stimmen Betroffener als ehrliche und vollständige Zeugen ihrer Erfahrungen.
Dass diese Mechanismen eine sich immer weiter verschärfende Isolation bewirken, erklärt sich von selbst. Man beginnt, soziale Kontakte und auch Arztkontakte zu vermeiden, um sich vor weiteren Verurteilungen und Verächtlichmachungen zu schützen.
Isolation und Stigmatisierung schneiden die Betroffenen von Kommunikation mit ihrem sozialen Umfeld immer weiter ab. Man zieht sich zurück, weil man sowieso nicht verstanden wird.
Ein Ausweg hieraus sind Selbsthilfegruppen und Internet-Communities mit ebenfalls Betroffenen.
Internalisierte symbolische Gewalt drückt sich in Selbstvorwürfen und Selbstzweifeln aus. Habe ich doch etwas falsch gemacht? Bin ich wirklich so schwer krank, wie ich glaube?
Diesem Verhalten wohnt auch eine Reaktion auf den Kontrollverlust durch die schwere Erkrankung inne.
Wenn ich "selbst schuld" wäre, könnte ich es ja auch anders machen. Es ist leichter auszuhalten, wenn man sich selbst vor anderen die "Schuld" gibt, als ständig von Gesunden gut gemeinte Ratschläge und unterschwellige Vorwürfe zu bekommen.
Soweit zu dem Konzept "Symbolische Gewalt" nach Bourdieu und Bunge in Bezug auf #MECFS. Hier noch meine Notizen/ lose Übersetzung als Dokument:
Ich finde das Konzept wahnsinnig hilfreich und auch relativ leicht verständlich. Es kann helfen, die eigene Situation als Betroffener besser zu verstehen, aber auch Allys können damit besser verstehen, wogegen wir seit Jahrzehnten ankämpfen.
Anfeindungen gegen Patientengruppen (ME/CFS und Long Covid/ PostVac), die sich für bessere Versorgung, Anerkennung und Forschung einsetzen, sind ebenfalls eine Form von symbolischer Gewalt, durch die der Status Quo erhalten werden soll.
Symbolische Gewalt zu erkennen und zu
benennen, kann uns vielleicht helfen, besser zu verstehen und auch Nichtbetroffenen zu vermitteln, welches Unrecht uns fortlaufend angetan wird. Ein Aspekt von symbolischer Gewalt ist ja gerade, wie schwer man darüber sprechen und sie in Worte fassen kann.
Insofern hoffe ich, mit diesen Threads zu unserem Empowerment beizutragen ✊💙🤝
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Ich möchte aus aktuellem Anlass nochmal darauf hinweisen, dass ich (zusammen mit mind. 2 anderen) von "jemandem aus der Community" in DMs an Dritte beschuldigt werde, Personen auf Discord zu bedrohen und "zu hetzen". Wer solche "Infos" über mich erhält,
sollte der Person bitte ausrichten, dass sie falschen Informationen aufgesessen ist. Die Person war selbst nie auf dem Server, daher kann sie nicht wissen, was dort geschrieben wird.
Es sieht so aus, als hätte jemand einen bekannten Großaccount dazu aufgehetzt, zu glauben,
ich würde auf Discord gegen ihn Stimmung machen und Mitgliedern drohen, die eine andere Meinung haben als ich. Die Vorwürfe sind lächerlich und ehrverletzend, weswegen ich mich dagegen wehren möchte.
Thread über Patientenbeschuldigung in der Medizin 🧵
Patient blaming ist eine Sonderform von victim blaming. Man ist hier nicht Opfer eines Verbrechens geworden, sondern einer Erkrankung, für die man in keinem Fall etwas kann (egal ob psychisch oder körperlich).
Dennoch wird einem dies oft implizit (oder auch explizit) unterstellt, wenn man schwer krank wird und die Therapievorschläge der Ärzt*innen keine Besserung bewirken.
Patient blaming tritt besonders oft bei komplexen, schlecht verstandenen, bisher unheilbaren Erkrankungen
wie ME/CFS oder vergleichbaren Krankheiten auf. Diese Kranken sind besonders oft einer massiven negativen Stereotypisierung und Psychiatrisierung durch Ärzt*innen ausgesetzt. So wird ihnen regelmäßig unterstellt, dass sie ihre Krankheit durch "katastrophisierende Gedanken"
Vor der Pandemie war #MECFS auf Twitter übrigens auch komplett unbekannt, von den selbst Betroffenen und deren Angehörigen einmal abgesehen. Wir haben uns sehr angestrengt, aber die Wand aus Ignoranz konnten wir so gut wie gar nicht durchdringen. Es war, als hätten alle
nicht-betroffenen Accounts uns auf stumm geschaltet.
Durch die Pandemie hat sich das Interesse zumindest vorübergehend etwas mehr auf ME/CFS gelegt, wodurch jetzt auch ein paar nicht-betroffene Accounts das Thema wahrnehmen. Außerdem ist die "Bubble" massiv gewachsen und
kann weniger leicht ignoriert werden.
Was sich nicht geändert hat, ist selbstverständlich die Wahrnehmung außerhalb des Internets (nur ca. 5% haben überhaupt einen Account auf Twitter). Meiner Wahrnehmung nach wurde das Thema "ME/CFS" eine zeitlang in der No-Covid-Bubble
Das Konstrukt "sekundärer Krankheitsgewinn" ist in meinen Augen perfide, richtiggehend menschenverachtend. 🧵
Die Krankheit nimmt einem fast alles an Lebensqualität und Teilhabe, was für Gesunde völlig selbstverständlich ist. Sich selbst was zu Essen kochen können, sich selbst
waschen? Es ist ganz und gar kein "Gewinn", wenn jemand anderes das für dich machen muss. Es ist erniedrigend und man muss psychisch sehr stark sein, um das auszuhalten. Entweder, es muss eine fremde Person machen, oder ein naher Angehöriger, weil man keinen PG bekommt.
Wenn es mir gut genug geht, einfache Gerichte selbst zu kochen, macht mich das richtig glücklich. Klar lasse ich mir auch gerne mal ein fertiges Gericht vorsetzen, aber nur ich weiß, wie ich Essen gerne mag, und welche Zutaten ich vertrage.
Das Seminar von @DianeOLeary zu diagnostischer Ethik von medizinisch ungeklärten Symptomen (MUS) ist eine wichtige Quelle und die Inhalte des Seminars sollten so viele Ärzte und Patienten wie möglich erreichen.
Für viele ist es schwierig, einem längeren Vortrag zu folgen, Videos und/oder Audio gehen gar nicht mehr, die Konzentration reicht nicht, oder die Sprachbarriere schreckt ab.
Deswegen habe ich den Vortrag übersetzt, nicht nur für Patienten, auch Ärzte lesen vielleicht eher ein
paar Tweets, als sich ein Onlineseminar anzuschauen.
Ich habe das Seminar übersetzt, weil ich es für sehr wichtig halte und so vielen wie möglich zugänglich machen möchte.
Es wird ein sehr langer Thread, ich habe den Inhalt nur leicht gekürzt und gelegentlich die Formulierungen
Leider ist dieses Thema in letzter Zeit weiterhin sehr relevant. Ich würde gerne ein wenig darüber aufklären, was symbolische Gewalt ist und wie sie sich auf Menschen, die an ME/CFS leiden, auswirkt. (Re-Post)
#MEAwarenessMonth
Es ist ein komplexes Thema, daher werde ich vermutl. mehrere Threads dazu schreiben, wenn ich es gesundheitlich schaffe.
Ich finde es sehr interessant und hilfreich, um zu verstehen, warum #pwME so lange keine Hilfe bekommen haben, und wie sich das auf die Patientys auswirkt.
Als Ausgangspunkt nehme ich diese Studie zu dem Thema, die sich allerdings recht speziell auf Leserbriefe in spanischen Zeitungen bezieht, was für mich in der Auswertung nicht ganz so spannend war. pubmed.ncbi.nlm.nih.gov/34125009/