Noch bis in die Zeit nach dem Ersten Weltkrieg war in der Sozialdemokratie der Gruß "Frei Heil" gängig. In unterschiedlichen Abwandlungen ("Berg Frei", "Ski Frei") stammte er ursprünglich aus der Arbeitersportbewegung. Seit den 1930ern war "Heil" aber zu stark NS-assoziiert.
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"Freundschaft" war in Gruß, der anfangs vor allem in der Kinderfreundebewegung üblich war. Die Exil-AZ bezeichnete später den Journalisten und Sozialdokumentaristen Max Winter, der 1917 die Reichsorganisation der Kinderfreunde gegründet hatte, als Urheber (7.8.1937).
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Neben den gängigen Symbolen und Ritualen sollten insbesondere eigene Grußformen dazu dienen, die Identität und Gruppenzugehörigkeit von Parteianhängern im Alltag zu stärken - und sich so vom bürgerlichen Milieu stärker abzugrenzen. Die Kirche war sich dessen wohl bewusst.
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Die Bischofskonferenz verbot Gläubigen in einem Hirtenbrief 1923 den Gruß "Freundschaft". In Reaktion darauf setzten Betriebsrät:innen mehrerer großer Unternehmen durch, dass "Freundschaft" fortan als Belegschaftsgruß zu gelten habe: Grüßen als täglicher Kulturkampf.
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Es dürfte anfangs allerdings keineswegs einfach gewesen sein, "Freundschaft" auch nur im täglichen Parteileben durchzusetzen. So schrieb eine empörte Wienerin einem sozialdemokratischen Blatt 1927, sie selbst grüße Genossen selbstverständlich jederzeit mit "Freundschaft".
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Jedoch: "Nur in den allerseltensten Fällen wird mein Gruß mit diesem Wort erwidert. Von den meisten bekomme ich zu hören 'Grüß Gott', 'Pfiat Gott', ja sogar von Freidenkern [einer scharf antiklerikalen Gruppierung innerhalb der sozialdemokratischen Kulturorganisationen, Anm.],
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die gedankenlos den Gruß der Klerikalen nachplappern.Als ich neulich einen Genossen darauf aufmerksam machte, daß 'Grüß Gott' eines Freidenkers doch eigentlich unwürdig sei, meinte er nur: 'Mein Gott, man ist es halt schon so gewöhnt.'
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Ich aber bin der Meinung, daß es höchste Zeit wäre it dieser üblen Gewohnheit zu brechen und daß unser schöner Gruß 'Freundschaft' weitere Verbreitung fände."
Die Redaktion schloss sich dem an und mahnte, "daß der Gruß Freundschaft als ein Bekennergruß gelten kann gegenüber
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den Grüßen der Klerikalen, in denen immer wieder Gott vorkommt."
In der 2. Republik wurde "Freundschaft" mit dem Wiederaufbau der SP-Parteistrukturen gleich als offizieller Parteigruß verankert, der aber nur im Umgang mit Genossen benützt wurde. Gegenüber Nichtparteimitgliedern
wurden neutralere Formulierungen gebraucht. Es blieb aber üblich, Gottesbezüge ("Grüß Gott" etc) peinlich zu vermeiden. Auch in Amtsstuben: "Mahlzeit" als beamteter Mittagsgruß soll stark von SP-Mitgliedern ausgegangen sein, um zur Hauptgrüßzeit dem "Grüß Gott" zu entkommen.
Neben dem vertraulichen "Hallo" oder "Servus" wurde ansonsten meist "Guten Tag" verwendet. Wenigstens anekdotisch lässt sich herleiten, dass die politische Absicht hinter dieser Grußformel auch von der Gegenseite noch lange verstanden - und missbilligt - wurde.
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Eine aus SP-Familie stammende, der Partei ansonsten aber nicht verbundene Freundin war in den 1990ern erstmals bei einem prominenten ÖVP-Politiker zu Gast. Als sie den Hausherren arglos mit "Guten Tag" grüßte, verbat sich der diesen "Sozigruß in meinem Haus" energisch.
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*historischer Kontext
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Was rund um den unverantwortlichen Umgang des zuständigen Sozialministeriums mit der Causa Auslandsdienst bislang nicht vorkommt, ist die politische Dimension.
Ein (auch aufgrund persönlicher Betroffenheit ziemlich ausführlicher) Thread
Den Verein Auslandsdienst gibt es überhaupt nur, weil es 1996/97 im Verein Gedenkdienst, dessen Gründer und Obmann Andreas Maislinger zuvor gewesen war, zu massiven Auseinandersetzungen gekommen war, die schließlich zu seiner Abwahl führten. zT ähnelten die Streitpunkte
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den heutigen: autoritäres, teils erpresserisches Verhalten gegenüber jungen Leuten, die sich für die gute Sache engagieren wollten: meist ging es darum, ihn durch Veranstaltungen und Medienberichte in ein prominentes Licht zu rücken, fallweise auch für ihn zu intervenieren
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Achtung Geschichtestudierende:
Diese Auseinandersetzung zwischen dem Sprecher des Verteidigungsministeriums @bundesheerbauer und Journalist @kappacherS ist ein Lehrbeispiel für kritische Quellenlektüre!
Ein Thread
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Im Zentrum der Auseinandersetzung steht die Benennung des Fliegerhorstes in Langenlebarn. Es gibt Menschen - nicht zuletzt im #ÖBH - die sich fragen, ob der aktuelle Namensgeber, Godwin Brumowsky (1889-1936), tatsächlich ein geeignetes Vorbild für das heutige Militär ist.
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Brumowsky war nämlich nicht nur ein erfolgreicher Kampfflieger des 1. Weltkrieges, sondern im Februar 1934 auch aktiv an der militärischen Durchsetzung des Staatsstreiches unter Dollfuss beteiligt: er nahm zeitgenössischen Quellen zufolge einen Wiener Gemeindebau unter Feuer.
So so. Im Keller der Polizeidirektion Innsbruck "tauchen Akten auf". Aus der Nazizeit, Gestapo, Berichte über Pogrome etc. Zwei Dinge sind bemerkenswert:
1. In Wirklichkeit taucht gar nix auf. Die Polizei wusste, dass Unterlagen da sind.
Wie das BMI haben die Landespolizeidirektionen aber einfach jahrzehntelang das Archivgesetz ignoriert und das Material rechtswidrig unter Verschluss gehalten.
2. Bemerkenswert neben der Spur auch die Reaktion des Innenministers.
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Karner sagt über Akten, die die Involvierung der Exekutive in NS-Verbrechen belegen: "Es geht darum, alles, was passiert ist, aufzunehmen und daraus zu lernen. Nicht im Sinne einer Verurteilung, sondern im Sinne einer Aufarbeitung dieser Geschichte." Aha.
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Ich mache sonst nicht in Hitler-History. Aber über diese unscheinbare kleine Rahmenhandlung in der Wiedner Hauptstraße 37, an der ich regelmäßig vorbei komme, möcht ich schon lange was schreiben. Nun also:
Ein Thread.
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Im Jahr 1898 eröffnete hier Jakob Altenberg (1875-1944) ein Geschäft für Rahmung und Vergoldung. Altenberg war Sohn einer jüdischen Familie aus Galizien, der als junger Mann sein Glück in der Residenzstadt Wien suchte und zunächst fand, sowohl geschäftlich als auch privat.
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Jakob war in Wien mit der nichtjüdischen Wirtstochter Barbara Braumüller (1875-1944) liiert. Sie wurde 1901 schwanger, im Mai 1902 wurde der gemeinsame Sohn Jakob Albin ("Jacques", 1902-1956) als lediges Kind geboren.
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Aus der Verbindung zweier großer Chicagoer Fleischdynastien ging Muriel Gardiner (1901-1985) als eine der reichsten Frauen des Planeten hervor. Sie kam in d 1930ern nach Österreich, um bei Sigmund Freud zu studieren. Hier begann eine äußerst ungewöhnliche Liebesgeschichte.
Gardiner unterstützte nach der Errichtung der Dollfuß-Diktatur die in den Untergrund gedrängte Sozialdemokratie. Sie verliebte sich in deren Vorsitzenden, den aus ärmsten Verhältnissen stammenden Joseph Buttinger. Das Paar verließ Österreich nach dem "Anschluß" 1938.
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In den USA organisierten Buttinger und Gardiner die Fluchten zahlreicher NS-Verfolgten und unterstützten hunderte Emigrant:innen. Später machte Gardiner sich einen Namen als Psychoanalytikerin. Buttinger wurde währenddessen einer der prominentesten Vietnam-Experten der USA.
Viel ist dieser Tage von der Migration nach Österreich die Rede, wenig von der (Arbeits)migration aus Österreich. Dabei beinhaltet die historisch gerade im 20. Jhd. ein paar recht überraschende Aspekte.
Ein (ziemlich langer) Thread
1/
Bis in d 1950er ist Österreich ein Netto-Auswanderungsland. Will heißen: es wandern mehr Menschen ab als zu. Besonders stark ist d Abwanderung aus wirtschaftl schwachen Gegenden, etwa d heutigen Burgenland, vor 1918 auch aus Galizien oder italienischen Regionen, va im Süden.
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Im 18. Jhd ist Auswanderung ein großes Wagnis: für durchschnittl Menschen gibt es gerade in Binnenregionen kaum verlässliche Information über Zielländer, Routen u Perspektiven. Wer geht, geht eher aufs Geratewohl, schlägt sich unter massiven Gefahren in eine Hafenstadt durch.
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