Kein hinreichender Tatverdacht wegen Nötigung: Der Beschluss des Landgerichts Berlin zu einer Blockade durch die #LetzteGeneration nimmt mit der Versammlungsfreiheit ein Kerngrundrecht des Grundgesetzes ernst. Das war überfällig. Wie kam das Gericht dazu? Kurzer Thread. (1/11)
Was ist passiert? Im Juni letzten Jahres setzte sich eine Gruppe von Aktivist:innen auf eine Straße und klebte sich fest. Es kam zum Stau. Das Ganze war aber auch schnell wieder vorbei: Nach 35 Minuten wurden die Spuren wieder freigegeben. (2/11)
Nach der sog. „Zweite-Reihe-Rechtsprechung“ des BGH wird in Hinblick auf die zweite und nachfolgende Reihen von Autofahrer:innen zwar "Gewalt" ausgeübt. Die Tat war aber nicht rechtswidrig, so das Landgericht Berlin. Es fehle an der "Verwerflichkeit" gem § 240 II StGB. (3/11)
Hier kommt jetzt Art. 8 GG (Versammlungsfreiheit) ins Spiel. Denn mit den Sitzblockaden soll auf die öffentliche Meinungsbildung eingewirkt werden; sie sind vom Schutzbereich der Versammlungsfreiheit umfasst. (4/11)
Dagegen spricht auch nicht, dass Dritte hierdurch in ihrer Fortbewegung behindert werden. Das ist - wie bei vielen Demonstrationen - sozial-adäquate Nebenfolge von Versammlungen. (5/11)
Natürlich gilt das nicht grenzenlos. Im Rahmen der "Verwerflichkeitsprüfung" des Nötigungstatbestandes müssen alle Umstände jeweils im Einzelfall abgewogen werden. Hier sagt das Gericht aber: die Versammlungsfreiheit überwiegt gegenüber der Fortbewegungsfreiheit. (6/11)
Die Blockade hielt nur 35 Minuten, was laut Gericht "hinsichtlich der üblichen Stauzeiten in Berlin aufgrund verschiedenster Ursachen als moderat bezeichnet werden kann." Durch Verkehrsableitungen kam es zudem nur kurz zum absolute Stillstand. (7/11)
Auf der anderen Seite bestehe ein Sachbezug zwischen Protesten in Zusammenhang mit der Klimakrise und Blockaden im motorisierten Straßenverkehr. Und: Es war bekannt, dass es zu Blockaden im ganzen Stadtgebiet kommt. Hierauf könne man sich einstellen und ggf. umplanen. (8/11)
In der "Gesamtschau", so das Gericht, ist die Beeinträchtigung von Rechten von Verkehrsteilnehmern nicht so massiv, dass die Fortbewegungsfreiheit gegenüber der Versammlungsfreiheit überwiegt. Daher: Keine Verwerflichkeit, keine Nötigung. (9/11)
Was folgt aus alledem? Erst einmal ganz simpel: Es kommt eben auf den Einzelfall an. Umstände sind zu ermitteln und Grundrechte gegeneinander abzuwägen. Keinesfalls aber lassen sich Verkehrsblockaden von @AufstandLastGen pauschal als strafbare Nötigung einordnen. (10/11)
Das ist weder neu, noch besonders aufregend, zeigt aber, dass Rufe nach pauschaler Kriminalisierung den grundrechtlichen Kontext der Aktionen der Letzten Generation häufig sehr grundsätzlich verkennen. (11/11).
Andere Frage, aber auch beachtenswert: Mit einer eher akrobatischen Auslegung des § 113 I StGB nimmt die Kammer bereits für das bloße Festkleben an der Straße hinr. Tatverdacht wegen Widerstands gegen Vollstreckungsbeamte an. M.E. kaum haltbar; obere Instanzen werden es klären.
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Die Urteilsgründe des AG Flensburg zu Klimakrise als rechtfertigender Notstand sind da. Ganz unabhängig davon, wie man zum Ergebnis steht - es ist ein faszinierendes Dokument, das zeigt, wie sehr die Klimakrise an das Fundament des Rechts geht. Hier nur ein paar Ausschnitte. 1/11
Um ein Hotel zu bauen, sollte ein Wald gerodet werden. Aus Protest besetzte der Angeklagte einen Baum auf dem zwischenzeitlich umzäunten Grundstück und erfüllte damit den Tatbestand des Hausfriedensbruchs. 2/11
Aber: Der Angeklagte handelte nicht rechtswidrig. Denn er handelte, "um eine gegenwärtige Gefahr von einem notstandsfähigen Rechtsgut abzuwenden und verwendete dafür auch das im konkreten Fall mildeste geeignete Mittel." 3/11