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Jun 17 16 tweets 4 min read Twitter logo Read on Twitter
Trauma, Rettungsdienst und Prävention - ein langer persönlicher Thread…:

Ich bin seit 1985 im Rettungsdienst. Landrettung in Bayern, viele Verkehrsunfälle. Freitag/Samstag Nacht war das die Regel. Die Ursache war fast immer auch der Alkohol. 1/x
Die Diskussion über die Gurtpflicht (Gurte ab 1974 in Neuwagen vorne, seit 1976 Anschnallpflicht vorne, Rückbank später) war von großen Widerständen geprägt. Wie später bei anderen Themen wie Rauchen oder Impfen wurde „Freiheit“ als wesentliches Argument angeführt. 2/x
Viele schnallten sich nicht an. Viele Tote, schwerste Verletzungen durch Rausschleudern, SHT, schwerste Gesichtstraumata. Dazu keine Ausbildung (ich hatte 60 h Sanitätsausbildung und Beifahrer, die Notärzt:innen glaube ich überhaupt keinen Kurs. ÄiW im 150 Betten-Krankenhaus. 3/x
Die Kombination ergab eine aus heutiger Sicht sehr bedenkliche Medizin, trotz höchster Motivation. SHT plus Gesichttraumata plus keine Skills, SOP und die Ausstattung waren zusammen gerade beim Airway Management oft eine Katastrophe. Jede Intubation war schwierig. 4/x
Erst als 1984 ein Bußgeld von 40 DM eingeführt wurde, stieg die Anschnallquote von 60% auf 90% (Q: Wikipedia). Später kamen Automatikgurt, Gurtstraffer, Airbags, Knautschzonen usw. Das Ergebnis sind heute relativ sichere Autos - aber nur für die Insassen. 5/x
Der Rettungsdienst wurde allmählich besser, auch wenn Dinge dabei waren, die wir zu lange falsch gemacht haben - wie HAES geben, zu lange „stabilisieren“ usw. Optisch die schnellste Entwicklung vom „Sanka“ zum heutigen RTW, leuchtende PSA statt weißer Polyester-Hose. 6/x
Die Anschnallquote ist heute 98%, die Kapnoquote ist es vermutlich leider noch nicht. Die Unfälle sind dennoch mehr geworden (Deutschland 1991: ca. 1,9 Mio; 2021: 2,1 Mio). Die Toten deutlich weniger (Deutschland: 1985: 10.070; 2022: 2782 ). (Q: destatis.de). 7/x
Wo stehen wir heute? Rettungsdienste klagen über sinnlose Einsätze, der „schwere Verkehrsunfall“ gilt aber weiter als spannend und „richtiger“ Einsatz. Technische Skills sind besser. Bei Prozessen („Anmeldung Schockraum“), und Fehlerkultur immer noch viel Luft nach oben. 8/x
Wissenschaftlich gibt es gerade nicht viel Neues (außer Trauma-Rea, Gerinnung und noch die Diskussion über HWS-Immobilisation). Wenn wir Prozesse verbessern, einheitliches Niveau schaffen und die Kultur ständig optimieren, können wir vermutlich nicht mehr viel mehr retten. 9/x
Wie können wir dennoch die Toten und Schwerverletzten reduzieren? Warum haben viele Institutionen wie DVR, DEKRA, DGUV und viele Andere eine „Vision Zero“? Warum hat die EU das Ziel, dass in 25 Jahren nahezu niemand auf den Strassen mehr sterben mehr soll? (Q: Wikipedia). 10/x
Weil es machbar wäre. Am wichtigsten in Städten und Gemeinden, da wo wir wohnen. Helsinki und Oslo haben bereits Jahre ohne einen einzigen oder sehr wenige Tote. Zwei Drittel (!) der Verkehrstoten innerorts sind Radfahrer und Fußgänger (Q: Destatis). 11/x Image
Vermeidbare Todesfälle gibt es nicht nur durch die geglückte Intubation. Der Unfall (sic!) gilt weiter als „Unglück“. Der Unfall ist vermeidbar. Helm, Warnweste, Fahrradführerschein und Wimpel ist zu wenig für die Radfahrer. Fußgänger sind die schwächsten Verkehrsteilnehmer. 12/x
Ohne getrennte und geschützte Fahrstreifen, Tempolimit und andere generelle Maßnahmen ist das nicht zu schaffen. Verhältnis- vor Verhaltensprävention. Viele haben das erkannt. Früh Amsterdam und Kopenhagen, jetzt auch Paris, London und New York. Deutschland? Berlin?? 13/x
Ich habe von Verkehrspolitik sehr wenig Ahnung. Als Notfallmediziner habe ich einen Wunsch: Wir sehen die Toten und Schwerverletzten. Wir retten sie manchmal, manchmal begleiten wir sie beim Sterben, manchmal sind wir bereits zu spät. Wir reden mit den Angehörigen. 14/x
Wir müssen uns auch für eine Prävention des Unfalls einsetzen. Zumindest davon berichten. Es gibt Expert:innen dafür. Das schwere Trauma nach Unfällen ist und bleibt in der Versorgung unsere Herausforderung. Kooperieren wir mit denen, die diese Unfälle verhindern. 15/x
Freuen wir uns über alle Maßnahmen, die unsere Einsätze überflüssig machen. Für die Menschen, denen Leid erspart bleibt. #VisionZero #Prävention #EMS #ItTakesASystemToSaveALife 16/16

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