Thread by @florianaigner

Was ist bloß los mit der Welt? Überall Fake News, Wissenschaftsfeindlichkeit, Trend zu autoritären Demagogen - gibt es da einen Zusammenhang?
Ich vermute schon: Den Wunsch, sich selbst nicht bessern zu müssen. (Thread)

Ich bin weder Soziologe noch Politologe, das hier stellt nicht den Anspruch von Wissenschaftlichkeit. Es sind bloß ein paar Gedanken, mit denen ich mir die Verrücktheit unserer Zeit selbst etwas zu ordnen versuche.

Wir alle wollen (zumindest vor uns selbst) halbwegs anständig und klug erscheinen. Vielleicht wendet jemand bewusst andere moralische Prinzipien an als die üblichen - aber nach irgendeinem Schema wollen wir doch irgendwie die Guten, Anständigen, Klugen sein.

Das wird zunehmend anstrengend, in einer wissenschafts- und technologiegeprägten Zeit, in der so viel Wissen verfügbar ist, dass man enorm viel Arbeit aufwenden muss, um sich auch nur bei einem kleinen Teil davon auszukennen. Klug sein ist mühsam.

Und es wird natürlich auch schwierig in einer Zeit, in der man erkannt hat, dass viele Dinge, die früher normal waren (etwa Diskriminierung von Minderheiten, über die man einst kaum nachdachte) moralisch nicht ok sind und man sensibler sein muss. Auch anständig sein ist mühsam.

Niemand von uns ist perfekt, aber wir könnten uns bemühen, uns Tag für Tag halbwegs anständig zu verhalten und Tag für Tag etwas klüger zu werden. Und Leute an die Spitze unseres Landes zu wählen, die möglichst klug und anständig sind.

Wir können es aber auch umdrehen und die latente Forderung, täglich an sich selbst zu arbeiten, völlig pervertieren, indem wir genau jene Leute, die dieser Forderung am wenigsten entsprechen, zu Vorbildern erklären.

Ich glaube, darin liegt eine wichtige Wurzel für Wissenschaftsfeindlichkeit und Begeisterung für Fake-News-schleudernde Ekelpakete in der Politik: Sie nehmen uns den Druck, selbst irgendwelchen Anforderungen genügen zu müssen.

Wenn der Ex-US-Präsident seine Frau betrügt, kurz nachdem sie sein Kind zur Welt brachte, und er dann ein gefeierter Held ist, dann muss ich mir über meine eigenen moralischen Fragwürdigkeiten keine Gedanken mehr machen.

Wenn Politiker in Korruptions-Netzwerke verstrickt sind und ich sie trotzdem wähle, weil sie zumindest versprechen, irgendeine Bevölkerungsgruppe zu ärgern, zu der ich nicht gehöre, dann spüre ich keinen erhobenen Zeigefinger mehr, der mich zur Besserung mahnen könnte.

Wenn Leute bejubelt werden, die ohne jede Scham wissenschaftlich längst widerlegte Dinge behaupten, ohne Belege vorzulegen, dann darf ich auch behaupten, was ich will, ohne mich wegen mangelnder Argumentationstiefe intellektuell unterlegen fühlen zu müssen.

Trump-artige Politiker sind nicht trotz ihrer Verfehlungen erfolgreich, sondern gerade wegen ihnen. Fake-News-Medien, die vom Presserat gerügt werden, sind nicht trotz ihrer Lügen erfolgreich, sondern gerade wegen ihnen.

Wenn wir uns Helden schaffen, denen moralische und intellektuelle Standards völlig egal sind, dann erlöst uns das von dem Gedanken, uns selbst an irgendwelche Standards halten zu müssen. Und das kann sich gut anfühlen. Endlich bin ich überlegen, per Definition, ganz ohne Aufwand!

Das Problem ist nur: Die Welt wird dadurch zu einem üblen Ort. Die Naturgesetze bleiben halt trotzdem wahr, auch wenn ich Leute in die Regierung wähle, denen sie egal sind. Und wenn niemand rücksichtsvoll und moralisch handelt, ist das Leben irgendwann für alle ein Graus.

Ich glaube, man sieht das besonders schön in der Klimadebatte: Klimakleber regen uns auf, nicht weil sie irgendetwas bunt anmalen, sondern weil sie ein schlechtes Gewissen machen. Weil sie moralische Oberhoheit einfordern und mir signalisieren, ich solle mich ändern. Frechheit!

Und dann postet ein TikTok-Star Fotos von seinem Privatjet-Flug und dem irrwitzigen Verbrauch seines Sportwagens. Das ist dumm und irrational und bringt mir eigentlich nichts - außer die Absolution für alles Fragwürdige, was ich selbst jemals getan habe. Ich bin gut! Halleluja!

Die Lösung ist: Eine Person ist etwas anderes als ein abstraktes Gut. Ich muss nicht der Klügste, Gebildetste, Moralischste sein. Niemand verlangt das. Aber ich sollte Klugheit, Bildung und Moral prinzipiell gut finden - sonst bin ich falsch abgebogen.

Jeder sagt manchmal Unsinn. Das ist ok. Aber es ist nicht ok, Unsinnsagen ok zu finden. Jeder handelt manchmal unmoralisch. Das ist ok. Aber es ist nicht ok, Unmoral ok zu finden. Wir können keinen Idealen perfekt entsprechen. Aber wir sollten zumindest Ideale haben.

Deshalb ist es auch dumm, Leute, die sich für bestimmte Ideale einsetzen, zu attackieren, wenn sie nicht perfekt sind. WIE KANNST DU GEGEN KLIMAWANDEL SEIN! DU ISST DOCH SELBER FLEISCH!! Das ist Unsinn. Man muss nicht perfekt sein, um sich für die richtige Richtung zu engagieren.

Meine Schlussfolgerung daraus: Ohne Anstand und Moral geht es einfach nicht. Wir können wissenschaftliche Fakten erklären so lange wir wollen, wir können detailliert darlegen, welches Verhalten welche Konsequenzen hat. Ohne Bereitschaft an sich zu arbeiten, ist alles sinnlos.

Dumm ist nicht jemand, der wenig weiß, oder beschränkte kognitive Fähigkeiten hat, denn das trifft auf uns alle zu. Dumm ist jemand, der aus Faulheit, Trotz oder Boshaftigkeit seine eigenen geistigen Fähigkeiten nicht nutzt.

Unmoralisch ist nicht jemand, der gegen moralische Regeln verstößt, denn das tun wir täglich alle. Unmoralisch ist jemand, der gar nicht versucht, nach einem moralischen Kompass zu leben. Das sollten wir nicht durchgehen lassen. Uns selbst nicht - und Politikern schon gar nicht.