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Nov 14 20 tweets 3 min read Twitter logo Read on Twitter
Hier in Stockholm habe ich die Veränderung von Greta Thunberg und der anderen schwedischen Fridays in den vergangenen Jahren miterlebt. Es ist die Verwandlung eines Teils der Klimabewegung („This is not about politics …”) in eine linksradikale, autonome Bewegung minus Gewalt.
Es geht also nicht nur um Israel/ Palästina. Es geht - wie bei uns früher - um „antikapitalistischen“ und „antiimperialistischen“ Kampf, gemeinsam mit „Revolutionären“ und „Befreiungsbewegungen“ aus aller Welt. Und man ist - wie früher - blind für alles Illiberale, Totalitäre.
Die vermutlich wichtigste Theorie - und Ideologie - ist der Postkolonialismus. Darum stehen seit langem samische, palästinensische usw. Aktivistinnen im Zentrum der Stockholmer Proteste. Die Sprecherinnen am 3. Juni 2022 kamen etwa aus Sápmi, Pakistan, Kenya, Brasilien, Tanzania.
”Decolonize” ist jetzt mindestens ebenso wichtig wie ”decarbonize”. In der Parole ”No climate justice on occupied land”, die Greta rief und die als politische Kommunikation nach außen so seltsam und wirr wirkte, werden beide Themen dieser Bewegung zusammengeführt und amalgamiert.
Im ZEIT-Essay „Die Panik vor den Rettern“ (25.03.2022) hatte ich schon einen Tweet kritisiert, in dem die postkoloniale Ideologie zum Ausdruck kam. Der sogenannte „internationale“ Account von FFF schrieb: „Wir stehen dem Palästinensischen Volk bei gegen Siedler-Kolonialismus.“
Die Verfasser meinten, „dass das System, das uns unterdrückt und das an den Rand gedrängte Gruppen entrechtet, dasselbe ist” (wie das israelische, S.H.). Sie fordern „den Sturz der Systeme” (the overhaul of the systems), die „sich auf Kolonialismus und Imperialismus gründen.“
Es folgte ein Zitat von Ghassan Kanafani, der der marxistisch-leninistischen PFLP angehörte
(die PFLP war in Terroranschläge verwickelt, etwa in Flugzeugentführungen). Die palästinensische Sache gehe alle „Revolutionäre“ an, als „Sache der ausgebeuteten und unterdrückten Massen“.
Auch Demokratien und Rechtsstaaten waren hier koloniale „Systeme“, die es zu „stürzen“ galt. Die israelische Besatzung und die „Unterdrückung” identitärer Gruppen in Demokratien schienen das Gleiche zu sein. Identity politics und postcolonialism verschmolzen: ”Uproot the system!”
Auf einem der Front-Transparente am 3. Juni 2022 stand ”What do we want? Socialism!” Keiner protestierte dagegen. Zwei Transparente beim letzten Globalen Streik: ”Kapitalismus zerschlagen!” und ”Keine Nachhaltigkeit ohne Klassenkampf!” Greta rief ins Megafon: ”Uproot the system!”
Wie immer bei Linksradikalismus und Wokeness haben wir es mit einer verwirrenden Mischung von legitimer Kritik (an Rassismus, der israelischen Besatzung/ Kriegsführung, den Problemen des Kapitalismus usw.) und extremen, illiberalen Ideologemen zu tun. Beides bildet ein Amalgam.
Die Klima-Engagierten, die jetzt erschrocken und überrascht sind, müssen sich klarmachen, dass es seit längerem eine Bewegung innerhalb der Bewegung gibt, man nicht abwarten kann, ”bis die Wogen sich geglättet haben”. Das wäre die eine von zwei Fallen, in die man tappen kann.
Die zweite Falle wäre meines Erachtens, immer das Gegenteil von dem für richtig zu erklären, was der ”autonome” Teil gerade behauptet. Zum Beispiel: Es gibt nichts an der kapitalistischen Produktionsweise zu kritisieren. Oder: Jede Kritik an Israels Regierung ist Antisemitismus.
Abhängigkeit wie Gegenabhängigkeit von dieser Bewegung und von Greta Thunberg wären also falsch. Darum habe ich so davor gewarnt, diese Minenfelder zu betreten. Man kann in ihnen kaum manövrieren, ohne schwere Fehltritte zu begehen, zumal auf Social Media- und Demoparolen-Niveau.
Noch eine strategische Bemerkung: Ich werde seit Jahren immer wieder gefragt, ob es der Klimabewegung schade oder nutze, „sich mit anderen Kämpfen zu verbinden“. Das klingt vorderhand nach einer Addition: Je mehr „Kämpfe“ sich verbinden, umso mehr Menschen erreicht man. Richtig?
Tatsächlich sind diese „Kämpfe“ allesamt Teile der radikalen Linken, die sich seit den 60ern in single issues zersplittert (Palästina-Solidarität, Nicaragua-Solidarität, Antifa, Antira, Antiimps usw.). Die Splitter sollen seit jeher wieder zu einer „Front“ zusammengeklebt werden.
Man „addiert“ also immer nur innerhalb einer marginalen, sich selbst weiter marginalisierenden und ideologisch immer schon kontaminierten radikalen Linken, entfernt sich immer weiter von der Mehrheit der Bevölkerung, deren „Kämpfe“ hier garantiert keine Berücksichtigung finden.
Ich würde vorschlagen, diese Debatte für abgeschlossen zu erklären. Es gibt schon lange nicht mehr die eine große Bewegung, die an einer Wegscheide steht. Ein Teil ist längst abgebogen. Das ist spätestens seit dem 7. Oktober klar. Man muss es verstehen, als Realität akzeptieren.
Die Frage ist: Wie viele Menschen wollen ein Engagement, das sich nicht durch ”andere Kämpfe“ marginalisiert? Das weder eine autonome, linksradikale Sicht vertritt noch die schematische, ebenso unnuancierte Gegenposition, sondern sich auf Klimaschutz und Naturschutz konzentriert?
Wie viele Menschen wollen ein Engagement, das den größten Teil seiner Zeit auf das Erreichen (und Zurückgewinnen) der normalen Bevölkerung richtet, das nicht nach „revolutionären Subjekten“ in fernen Ländern sucht, sondern die Politik in den westlichen Industrieländern verändert?
Vergangenen Freitag war ich beim Klimastreik vor dem Schwedischen Reichstag. Ich wollte mit Greta über die Gefahren der jetzigen Situation reden. Warum es nicht versuchen? Es waren fünf Menschen gekommen. Greta war nicht da. Ich nehme an, sie war schon auf dem Weg nach Holland.

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Nov 2
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Nov 1
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Oct 27
Grenzenloser Schmerz. Grenzenlose Wut

Einige Bemerkungen zu Israel, Palästina, Greta, Klimabewegung und der Falle einseitiger Einfühlung
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Gegen Klima-Defätismus.

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Darum hier noch mal einige Gedanken.
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