Dunkle Zeiten. Ein thread in 20.
1/20 Ich habe am 13.11. mit drei Kollegen ein persönliches Statement zu Grundsätzen der Solidarität auf unserer Institutshomepage veröffentlicht, das unsere Haltung zum Anstieg von Antisemitismus seit dem 7. Oktober deutlich machen sollte.
2/20 Seitdem werden alle Autoren mit Beschimpfungen, Diffamierungen und Hass überzogen. Uns wird vorgeworfen, dass wir einen Völkermord an den Palästinenserinnen und Palästinensern billigen oder sogar befördern. Das schlichte Argument dahinter: Dadurch, dass wir es unterlassen
3/20 würden, die Angriffe Israels in Gaza zu beurteilen und zu bewerten, würden wir Israels Handlungen, wie immer man sie auch beschreiben möge, billigen u rechtfertigen. Das übersieht mindestens grob, dass wir sehr wohl deutlich machen, dass auch ein prinzipiell gerechtfertigter
4/20 Gegenschlag den Prinzipien von Verhältnismäßigkeit, der Schonung von Zivilistinnen und Zivilisten und Zukunftsfähigkeit (d.h. keine Vernichtungsabsicht) genügen muss. Das nächste Argument lautet, das würde aber nicht ausreichen, weil schon längst ein Genozid stattfinde, den
5/20 wir mit unserem statement leugneten. Ich weiß nicht, woher diejenigen, die dieses Argument vertreten, ihre Sicherheit nehmen, das zu behaupten: Aus den Statements israelischer Regierungsmitglieder direkt nach dem 7. Oktober? Das ist mindestens fragwürdig. Dass nach den
6/20 erschütternden Bildern drastische statements geäußert werden, ist erwartbar u sollte nicht Grundlage einer Einschätzung der generellen Situation sein. Dafür wäre eher einschlägig, sich die Aktivitäten der IDF und deren konkrete Zielsetzung anzusehen. Die sehen anders aus.
7/20 Reicht die Schonung von Zivilistinnen und Zivilisten aus? Das ist eine ganz andere Frage. Nein, ich bin nicht zufrieden damit, wie Israel das angeht, aber Völkermord kann ich nicht erkennen u das geben die Fakten, die wir haben, auch für mich nicht her. Das heißt nicht, dass
8/20dass wir nicht besorgt sein müssen, im Gegenteil. Akte der Barbarei, wie Israel sie am 7. Oktober unmittelbar und wir als Zuschauer erlebt haben, bringen unendlich viel Hass hervor, sollen sie ja auch. Und Hass ist der klassische Einstiegspunkt für Genozide. Manche meinen nun
9/20 dass ich keinen Genozid erkennen könne, weil ich wie viele Deutsche die unverarbeitete Schuld für die Shoah auf die Palästinenser verlagere (free Palestine from german guilt). Mir war schon immer schleierhaft, wie man die historische Verantwortung für 6 Mio. Tote verarbeiten
10/20 soll, DEN Zivilisationsbruch. Diese Schuld ist in ihrem Ausmaß so obszön, sie kann nicht verarbeitet, sondern nur getragen u bearbeitet werden. Nichts davon macht mich blind gegenüber kritikwürdigen Politiken israelischer Regierungen oder ihrer Streitkräfte, es sorgt aber
11/20 dafür, dass ich mir der dünnen Lackschicht von Zivilisation bewusst bin, die jederzeit brechen kann, und der großen Aufgabe, sie zu schützen. Die teils (!) umstandslose Gleichsetzung von Israels Handeln in Gaza mit dem Nationalsozialismus ist eine solche Bruchstelle und
12/20absolut inakzeptabel. Wenn ich Israelflaggen mit Hakenkreuz geschickt bekomme, ist das inakzeptabel und es ist schlicht antisemitisch. Diese Grenze zwischen Kritik an Israels Handeln (in welchen Kontexten auch immer) und antisemitischer Hetze verteidige ich und bleibe dabei.
13/20 Schließlich lautet ein weiteres Argument, dass der bloße Verweis auf moralische oder rechtliche Prinzipien pflichtbewusst oder blutarm sei, weil er nicht helfe, konkrete Handlungen zu ergreifen. Ich glaube, das ist eher ein Problem unserer Gegenwart als unseres Statements.
14/20 Seit wann sollen moralische oder rechtliche Prinzipien denn ein konkretes Handeln vorprogrammieren? Sie sollen Orientierung bieten, um über Handlungsoptionen und ihre Rechtfertigbarkeit nachzudenken im Lichte konkreter Umstände, auch politischer Kontexte. Was passiert, wenn
15/20 moralische Kategorien umstandslos auf die Empirie übertragen werden, erleben wir gerade zu oft. Und zuallerletzt will ich noch einen Gedanken äußern, der mich besonders umtreibt u zutiefst besorgt zurücklässt. Die Hamas hat die Massaker des 7. Oktober sehr genau geplant,
16/20 ein Skript dafür entwickelt und die Kameras gleich mitgeschickt um ihre Barbarei aller Welt vor Augen führen zu können. Sie wollte nicht nur ausdrücken, dass Jüdinnen und Juden egal welchen Alters zu vernichten sind (wenn Sie nach genozidalen Intentionen suchen, hier werden
17/20 Sie fündig, die Interviews mit der Hamas oder ihre Charta liefern den Rest), sie wollte, glaube (!) ich, Israel zum Äußersten treiben. Die perfide Strategie, die die Hamas ebenfalls nutzt, sich in zivilen Gebäuden wie Krankenhäusern oder Schulen zu verschanzen, folgt einer
18/20 ähnlichen Logik: Israel dazu zu bringen in einer Weise zurückzuschlagen, dass die Humanität der Israelis vor den Augen der Welt verloren geht. Dies scheint der Hamas, die wenig Interesse am Wohlergehen der palästinensischen Bevölkerung zu hegen scheint, so gut zu gelingen,
19/20 dass man die Effekte bis in öffentliche Diskurse und auch jene in der Wissenschaft verfolgen kann. Die persönliche Diffamierung und der Hass, die wir schon in früheren Konflikten erlebt haben, sinken auf ein ganz neues, fürchterliches Niveau: Wenn jede Meinungsabweichung
20/20 ausreicht, um andere als Diskurspartner zu disqualifizieren, Kompetenz und Anstand abzusprechen und Freundschaft aufzukündigen, dann sind dunkle Zeiten angebrochen. Vielleicht hilft es, sich daran zu erinnern, dass wir um jedes Opfer trauern. Das sollte uns doch einen.
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1/24 Seit gestern geistert ein Meinungsstück (mir fällt keine neutralere Bezeichnung für dieses Pamphlet ein) von einem pensionierten Kollegen aus der Sicherheitsforschung in der faz durch twitter und bringt mir jede Menge Kommentare, warum ich mich darüber so aufrege und ob das
2/24 nicht zeige, dass er doch irgendwie recht hat. Darum will ich meinen Ärger jetzt einmal etwas ruhiger erläutern. Den Kern des Textes des Kollegen bildet ein zentrales Argument: Sicherheitsforschung u strategic studies hätten i D keine Chance gehabt, weil bis zum Krieg ein
3/24 institutionell-ideologischer Komplex militanter Pazifist.innen (Wissenschaft und Politik) dies verhindert hätten. Im Besonderen seien die Friedens- und Konfliktforschung, die natürlich alle militante Pazifisten seien, dafür verantwortlich, dass Deutschland Russland falsch