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Feb 26 13 tweets 2 min read Read on X
Je intensiver man sich mit dem Nahostkonflikt beschäftigt, umso deutlicher drängt sich eine Schlussfolgerung auf: Die Wahrscheinlichkeit liegt nahe, dass die israelische Regierung oder zumindest ihre rechtsradikalen Fraktionen davon überzeugt sind, die Sicherheit des Staates
Israel nur noch mit der Vertreibung aller Palästinenser aus Gaza gewährleisten zu können. Da die Hamas nicht freiwillig kapituliert und ihre Führung nicht bereit ist, Gaza zu verlassen, scheint das die einzige Option für Israel zu sein, eine Wiederholung des 7. Oktober zu
verhindern. Wenn man die Logik der Rache in diesem Konflikt kennt, ist zu vermuten, dass eine Ausweitung der Offensive auf das gesamte Gebiet Gaza zu Beginn des Ramadan bevorsteht. Die Hamas hat sich verschätzt. Sie war der Überzeugung, dass das Morden und unmenschliche Wüten
am 7. Oktober nur die üblichen Rituale von Tat und Vergeltung zur Folge haben würden. Einige Bomben auf Gaza. Einige Hundert tote Palästinenser. Noch mehr Leid und Blut für ihre Märtyrer-Propaganda. Aber keine existenziellen Konsequenzen für die Präsenz und Macht ihrer
politischen und militärischen Kader. Die Hamas hat Gaza nicht als palästinensische Heimat verstanden, die es aufzubauen und zum Wohlstand zu führen galt. Sie hat Gaza als Stützpunkt eines Vernichtungsfeldzuges verstanden, den es zu festigen, mit Tunneln und Waffendepots
auszustatten galt, den der Feind als permanente Bedrohung hinnehmen sollte. Aller Voraussicht nach wird der Feind diesen Stützpunkt nun erobern, schleifen und damit die Bedrohung für seine eigene Bevölkerung beenden wollen. Den Preis wird die palästinensische Bevölkerung zahlen,
weil sie die Strategie ihrer politischen Führung, die Strategie des permanenten Krieges und der permanenten Bedrohung des Feindes nicht beenden konnte oder wollte. Die bevorstehenden furchtbaren Folgen werden - so befürchte ich - in der muslimischen Erzählung wieder dazu dienen,
als Beweis für die vermeintliche Niedertracht und Verdorbenheit „des Juden“ zitiert zu werden. Sie werden nicht als selbstzerstörerische Konsequenz des unaufhörlichen Vernichtungswillens der eigenen politischen Führung reflektiert werden. Natürlich bin ich entsetzt über die
Folgen von Krieg und Vertreibung. Das menschliche Leid lässt mich nicht kalt. Aber ich habe keine Antwort auf die Frage, wie Israel seine Bevölkerung vor einem Feind schützen soll, der nicht zum Frieden bereit ist und selbst die schlimmsten Gewaltexzesse noch als Ausdruck seiner
Unbeugsamkeit zelebriert. Ja, Besatzung ist keine Lösung für diesen Konflikt und dient nicht der Schaffung eines dauerhaften Friedens. Gaza war nicht mehr besetzt. Der 7. Oktober war für Israel die Folge der Beendigung der Besatzung Gazas. Die Hamas hat erwartet, dass sich Israel
mit den Gräueln des 7. Oktober als eine Art wiederkehrendes Ritual dieses Konfliktes abfindet. Sie hat sich geirrt. Dieser Irrtum hat nun furchtbare Konsequenzen für die Menschen in Gaza. Die kommentierenden Stimmen in der muslimischen Landschaft hier in Deutschland und
international lassen nicht erwarten, dass es ein Umdenken und eine Abkehr vom Vernichtungswillen und vom Judenhass geben wird. Die Überzeugung, immer moralisch im Recht zu sein weil man muslimisch ist, wird dazu führen, die Feindschaft gegen Israel und den Hass auf Juden als
moralisch gerechtfertigte, ja gebotene Haltung zu begreifen. Hier müsste es ganz dringend eine selbstkritische Auseinandersetzung der religiösen Autoritäten und muslimischen Vertreter geben - gerade hier in Deutschland. So wie ich diese aber kenne, habe ich wenig Hoffnung.

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Feb 27
Was mich richtig betrübt: Aus der - soweit man das hier wahrnehmen kann - muslimischen Landschaft kommt keine einzige inhaltliche Auseinandersetzung mit den Positionen, die ich hier zu innermuslimischen Themen oder zum Nahostkonflikt formuliere. Nicht eine einzige. Nur
persönliche Schmähungen, vulgäre Ausfälle, identitäre Abgründe. Für eine religiöse Gemeinschaft, die sich als „beste Gemeinschaft“ wahrnimmt, ist das moralisch, spirituell und intellektuell eine katastrophale Außenwirkung. Und auch für die inneren Verhältnisse ist das eine
deprimierende Zukunftsperspektive. Mit einer solchen Grundlage lässt der Ansatz „Verbesserung durch Generationenwechsel“, mit dem unsere Religionspolitik momentan „all in“ geht, ein verhängnisvolles Ergebnis befürchten. Da kannst du dann noch so sehr Imame in Deutschland
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Jan 29
Es geht Erdogan nicht darum, in Fraktionsstärke ins Europaparlament einzuziehen, lieber Herr @jensspahn . Es geht darum, Augen und Ohren in europäischen Gremien zu platzieren. Dieser neuen „europäischen AKP“ reichen dafür wahrscheinlich weniger als 300.000 Stimmen. Dafür braucht
man keine doppelten Staatsbürger. Da reicht schon das gegenwärtige Stimmenpotenzial. Das eigentliche Problem ist doch etwas anderes: Egal welche Regierung, alle waren und sind der Meinung, dass die aktuellen Einflussinstrumente Erdogans in Gestalt der Moscheeverbände die
religionspolitischen Partner sind, an denen man nicht vorbeikommt und mit denen man kooperieren muss, egal wie sie aufgestellt sind oder welche Ziele sie verfolgen. Das gilt dann als „Realpolitik“. Dabei werden religionspolitische „Meilensteine“ als erfolgreiche Politik gefeiert,
Read 6 tweets
Dec 24, 2023
Als Muslim habe ich sehr schöne Erinnerungen an Weihnachtsgottesdienste in meiner Geburtsstadt und alten Heimat Lübeck. Es sind frühe Erinnerungen daran, dass Religion und gelebte religiöse Traditionen Schönheit, Gemeinschaft und Hoffnung bedeuten. Ich bin tief betroffen, wenn
wie jetzt wieder Muslime Anschläge auf Weihnachtsmärkte oder Gottesdienste planen oder durchführen. Die religiöse Motivation der Täter für Anschläge auf Weihnachtsgottesdienste empfinde ich als beschämend für den Zustand unserer muslimischen Gemeinschaft. Der muslimische Protest
und die Thematisierung dieser Gewalt- und Vernichtungsbereitschaft und des Hasses gegen Christen und christliche Bräuche und Rituale ist viel zu leise und viel zu gering. Ich bete dafür, dass unsere muslimischen Vertreter dies erkennen und ändern. Ich bete dafür, dass alle
Read 5 tweets
Nov 5, 2023
Das Interessante an diesen Kalifat-Fanboys ist diese fixe Vorstellung, es gäbe eine ganz konkrete objektive religiöse Wahrheit und ausgerechnet sie hätten sie vollständig verstanden. Sie und nur sie wissen, was die Wahrheit ist. Und das ohne jeden Irrtum. In ihrer Rhetorik
versuchen sie das als Glaubensstärke und Standhaftigkeit zu verkaufen. Aber letztlich ist das eine extrem narzisstische, egozentrische, totalitäre Gesinnung. Diese Leute würden am Ende auch noch wütend mit Gott darüber streiten, dass sie den Islam besser verstanden haben als
er ihn offenbart hat. Denn dieser Wahn von einem weltweiten Kalifat impliziert ja, dass Gott sich geirrt hat. Auch wenn er andere Völker und Glaubensgemeinschaften erschaffen hat, damit wir uns kennenlernen und voneinander lernen - wie es im Koran heißt - wissen es die
Read 9 tweets
Nov 4, 2023
Ich beobachte, wie einige öffentliche muslimische Stimmen die Rede Habecks kritisieren und als rassistisch bezeichnen. Sie stören sich an diesem Satz: „Sie müssen sich klipp und klar von Antisemitismus distanzieren, um nicht ihren eigenen Anspruch auf Toleranz zu unterlaufen.“
Wer das undemokratisch oder gar rassistisch findet, hat die Demokratie nicht kapiert. Er sagt nämlich davor auch dies: „Die hier lebenden Muslime haben Anspruch auf Schutz vor rechtsextremer Gewalt – zurecht. Wenn sie angegriffen werden, muss dieser Anspruch eingelöst werden…“
und danach sagt er auch dies: „Unsere Verfassung schützt und gibt Rechte, sie legt aber auch Pflichten auf, die von jedem und jeder erfüllt werden müssen. Beides kann man nicht voneinander trennen. Toleranz kann an dieser Stelle keine Intoleranz vertragen. Das ist der Kern
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Nov 2, 2023
Um mal Klarheit zu schaffen, weil viele es durcheinander bringen: Die Diyanet ist die türkische Religionsbehörde mit Sitz in Ankara. Sie kontrolliert die Ditib, ein Verein nach deutschem Recht mit Sitz in Köln. Beide veröffentlichen Freitagspredigten. Die sind in der Regel
inhaltlich verschieden. Die Texte in Ankara werden von der dortigen Generaldirektion für religiöse Dienste verfasst und werden in den Moscheen in der Türkei verlesen. Die Texte der Ditib in Köln werden von ihrer Predigtkommission verfasst. Beide Institutionen stellen ihre
Texte in deutscher und türkischer Sprache ins Netz. Diese doppelte Praxis ist im wesentlichen der Tatsache geschuldet, dass die Predigten in der Türkei häufig als religiöse Flankierungen der dortigen Politik fungieren. Die Predigten der Ditib hier in Deutschland werden in den
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