Thread by @JohannesKoepl

🇦🇷Liberale auf der ganzen Welt bejubeln gerade Javier Milei, weil er 2 wesentliche volkswirtschaftliche Kennzahlen nach rund 100 Tagen im Amt verbessern konnte:

Die Inflation sinkt und es gibt, auf Monatsebene, wieder einen ausgeglichen Haushalt.
Also alles gut?

Ein Thread.

Die Gründe für diese beiden „Erfolge“ sind teilweise dieselben: ein brutaler Sparkurs am Sozialsystem und dem Staat selbst, den Milei im Wahlkampf ja als „den Pädophilen im Kindergarten“ bezeichnet hat.

Milei ist eben ein Staatsfeind.

Sehen wir uns also zunächst die sinkende Inflation an:
Diese ist relativ leicht erklärt: die Menschen verarmen, haben kein Geld mehr. Der Konsum bricht ein, Unternehmen können ihre Produkte kaum noch verkaufen, das führt normalerweise zu sinkenden Preisen.

In Argentinien aktuell zumindest zu einer sinkenden Teuerung.

Die Gründe für diese Verarmung liegen vor allem an den massiven Sozialkürzungen: Sozialleistungen werden bei einer Inflation von noch immer über 200% nicht mal annähernd valorisiert.

Gleichzeitig werden staatliche Stützungen, von denen primär die unteren Einkommensschichten profitieren abgeschafft. Etwa Subentionen auf Energie, Transport und Medikamente.

Konkret wurden etwa die staatlichen Zuschüsse für den öffentlichen Verkehr gestrichen.

Ein Zug- oder Busticket in Buenos Aires ist damit auf einen Schlag um rund 1000% teurer geworden. Das trifft fast ausschließlich untere Einkommensschichten. Wohlhabende fahren in Buenos Aires mit dem Auto.
Kosten für Strom % Gas stiegen durch die Streichung der Stützung um 300%.

Medikamente wurden bisher für Mindestpensionisten und Sozialhilfeempfänger zu einem niedrigen Fixpreis, vergleichbar mit einer Rezeptgebühr, ausgegeben. Jetzt kosten sie einfach den Marktpreis. Viele Armutsbetroffene können sich lebenswichtige Medikamente nicht mehr leisten.

Außerdem wurde neue Armut geschaffen, indem Milei zigtausende Menschen im öffentlichen Sektor auf die Straße setzte. Dazu gleich mehr.
Kein Wunder also, dass die Armut in den ersten 100 Tagen von Mileis Regentschaft von rund 40% auf etwa 60% explodiert ist.

Massive Armut dämpft die Inflation. Ob man diese Form der Inflationsbekämpfung abfeiern muss, lasse ich mal so stehen.

Sehen wir auf die Seite des Staatshaushalts. Ja, Milei hat es im Jänner und februar geschafft, kein Defizit zu erwirtschaften. Klingt auch gut. Wie ging das und wie ging das so schnell?

Recht einfach: er hat mit der Sense die Staatsausgaben gestrichen: so wurde rund die Hälfte der Ministerien geschlossen (sprich: tausende öffentliche Bedienstete gekündigt und wichtige Aufgaben einfach nicht mehr erledigt).
Ich gehe da mal etwas ins Detail:

Öffentliche Bauaufträge wurden soweit wie möglich abgesagt und rückabgewickelt, neue Bauaufträge wird es nicht geben. Der Staat investiert keinen Peso mehr in die Infrastruktur.
Als der Infrastrukturminister das öffentlich relativierte und meinte, ...

...es müsse im Einzelfalls sicher Ausnahmen von dieser Totalkürzung geben, widersprach Milei.
Einen Tag später trat der Infrastrukturminister aus persönlichen Gründen zurück. Zwei weitere Tage später wurde das Infrastrukturministerium dann überhaupt geschlossen.

Aber auch die Bildung wir zu Tode gekürzt. Die öffentlichen Schulen sind de facto pleite, die Lehrerschaft streikt, die öffentlichen Unis haben noch Geld bis etwa Anfang Mai.

Die staatliche Forschungseinrichtung CONICET, die vor allem in der Grundlagenforschung wichtige Beiträge zur wirtschaftlichen Entwicklung leistet, wurde auf ein Drittel ihres Budgets gekürzt.

Zur Einordnung: CONICET hat mehrere Nobelpreise gewonnen und wird unter den weltweit wichtigsten technischen Forschungseinrichtungen auf Platz 20 geführt (zum Vergleich, die NASA liegt auf Platz 30).

Auch der Kunst- und Kultursektor wird systematisch zerstört. Die Filmindustrie in Argentinien ist ein wichtiger Wirtschaftsfaktor, der argentinische Film neben Mexiko der wohl wichtigste in Lateinamerika.
Die nationale Filmgesellschaft INCA liegt nach nur 100 Tagen am Boden.

Während argentinische Filme in Cannes für Preise nominiert werden, musste INCA 170 Personen kündigen und das cine Gaumont, das historisch wichtigste Kino in Buenos Aires wurde unter Massenprotesten geschlossen.

Die 1945 gegründete staatliche Nachrichtenagentur TELAM, die als einzige jeden Winkel in Argentinien erreicht wurde geschlossen. Die rund 700 Mitarbeiter gekündigt.

Die Ministerin für „Humanressourcen“ (ein Sozialminsiterium gibt es seit dem Amtsantritt von Milei ja nicht mehr) hat die gesetzlich verankerten Zuschüsse für Suppenküchen gestrichen. Sprich, einfach die Überweisungen abgedreht.

Das ist natürlich illegal, es gibt bereits eine Anzeige durch die Staatsanwaltschaft wegen Amtsmissbrauchs gegen die Ministerin. Der Grund: die Ministerin glaubt den Nutzern der Suppenküchen nicht, dass sie so arm seien, dass sie sich keine warme Mahlzeit leisten können.

Darüber hinaus hat Milei die meisten staatlichen Unternehmen zur Privatisierung freigegeben. Darunter hochprofitable Unternehmen die Aerolineas Argentinas oder die Wasserwerke sollen verkauft werden.

Damit werden dem Staat jährlich hunderte Millionen an Einnahmen wegfallen. Für einmalig einige Milliarden an Verkaufserlösen.
Diese Verkaufserlöse rechnet Milei ein, wenn er für 2024 ein ausgeglichenes Budget verspricht.

Fazit: es wird nichts mehr in die Infrastruktur, Bildung, Forschung, Kultur oder Verwaltung investiert.
Ich denke man muss kein Volkswirt sein, um zu sehen, dass das etwa so ist, wie ein Produktionsbetrieb, der alle seine Maschinen verkauft, den Strom abdreht...

...und sich dann damit rühmt, ein tolles Quartalsergebnis zu haben. Nachhaltig wird das die argentinische Wirtschaft in eine noch viel größere Krise stürzten, als das Carlos Menem getan hat (mit der Folge der Staatspleite 2001).

Dass Milei darüber hinaus die Demokratie demontiert, Grundrechte abschafft und das Land zunehmend isoliert, kommt noch on top. Mit den bisher wichtigsten Handelspartnern Brasilien und China gibt es kaum noch Kontakt.

Milei besucht lieber seinen Bruder im Geiste Donald Trump, mit dem er neben seiner Verachtung für die Demokratie, einer narzisstischen Störung, fehlendem Realitätsbezug und einer originellen Frisur auch dessen unkontrolliertes Verhalten auf Social Media teilt.

Ja, Milei hat also die Inflation auf monatlich 12% gesenkt und 2 Monate lang ein ausgeglichenes Budget geschafft [verhaltener Applaus aus dem rechten Eck].
Aber ist damit alles gut in Argentinien? I don´t think so.