Wer allen Ernstes meint, dass eine "Einfrierung des Ukraine-Konflikts" irgendwem hilft außer Putin, hat nicht verstanden, warum eine Seite, die bisher nicht verhandeln wollte, das dann doch vorschlägt, oder wie man schreibt "signalisiert".
Ein paar Gedanken dazu.
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Zuallererst, es ist ein verbrecherischer Angriffskrieg Putins und seiner Schergen gegen die Ukraine, einen souveränen Staat, der bereit war, im Sinne guter Nachbarschaft, seine Atomwaffen zu übergeben. Das unter "Konflikt" zu subsummieren ist schon ekelhafter #bothsideism.
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Aber abgesehen davon, muss man sich doch fragen, warum jemand, der über 2 Jahre Krieg führt, auf einmal denkt, huh, machen wir doch mal Pause. Man muss vermuten, dass es nicht Karl Nehammer in Friedensmission war, sondern dass es dafür echte Gründe gibt.
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Grundsätzlich verhandeln Kriegsgegner nur, wenn sie sich davon einen Vorteil versprechen, das kann politisch motiviert sein, zB um den Eindruck zu erwecken, man sei an Frieden interessiert. Oft folgt darauf ein langes gegenseitiges Fingerzeigen, aber der, nein der andere!
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Auch das dient zB schon das Bild zu erwecken, dass man hier auf Augenhöhe und damit wahrgenommen gleichermaßen an diesem "Konflikt" beteiligt ist. Krieg ist immer auch Propaganda und da beginnen die Probleme erst.
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Viel wahrscheinlicher ist, dass es dafür wirtschaftliche und/oder logistische Gründe gibt, es also an Finanzierung, an Produktion und damit Nachschub, an Verwaltung, an Zulieferern etc pp fehlt. Der militärische Erfolg kann nicht erreicht werden, weils hinter der Front hakt.
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Und was natürlich auch immer sein kann, ist, dass sich eine militärische Unterlegenheit abzeichnet. Wobei ich vorweg behaupte, dass das in diesem Fall nicht sehr wahrscheinlich ist. Nach aktuellen Schätzungen kann Russland diesen Krieg noch wenigstens 1 - 1½ Jahre bedienen.
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Also klopfen wir's ab. Was hätte die Ukraine / Putin auf politischer Ebene davon, jetzt diesen Krieg auszusetzen?
Die Ukraine hätte davon nichts. Im Gegenteil, sie müsste fürchten, dass das Interesse wieder nachlässt, der Westen sich damit abfindet, Motto, ist halt so. 🤷♂️
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In weiterer Folge müsste sie sich mit der politischen Realität im Land auseinander setzen, also es ist ja kein Krieg mehr, also können auch Wahlen stattfinden, das sehen andere wieder anders, innere Streitigkeiten usw.
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Putin bedient seit Wochen auf allen Kanälen das Narrativ, dass Selenskyj mit Ablauf seiner regulären Amtszeit ein "illegaler Präsident" geworden ist, der das Land unterdrückt und den Krieg verlängert, nur um sich an der Macht zu halten.
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Genügend Deppen plappern es ja tagtäglich nach. Dass es in allen Staaten vergleichbare Regeln gibt, spielt dann auch keine Rolle und nicht selten liest man dann noch, in Russland wird ja gewählt. Ja, genau, lol.
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Also wir halten fest, die Ukraine hat auf politischer Ebene davon gar nichts zu erwarten. Was würde es Putin bringen. Na jede Menge. Er kann sich als Friedensstifter seines eigenen Krieges gerieren, weiter an der Untergrabung und Umgehung der Sanktionen arbeiten.
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Er kann weitere Allianzen schmieden und setzt darüber hinaus, wie oben erwähnt, die Ukraine in Zugzwang. Mit anderen Worten: Er hat viel zu gewinnen und nichts zu verlieren, außer ein wenig Zeit. Zeit, die er sehr gut für sich nutzen kann.
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Und das bringt uns zum nächsten Thema. Wirtschaft & Logistik. Was hätte die Ukraine von einer Pause? Antwort: Wenig. Ja, sie könnte die Inlandsproduktion aufbauen, Infrastruktur reparieren, die Menschen besser versorgen, auch um das Vertrauen zu stärken.
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Was sie aber nicht kann, ist sich mit der Situation zu arrangieren, denn dafür fehlt schlicht das Geld. Die Ukraine ist wirtschaftlich komplett vom Westen abhängig. Kein Land der Welt wäre so dumm, in einer Kriegspause massiv in ein Land zu investieren.
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Marshallplan macht man, wenn der Krieg entschieden ist, aber nicht, wenn es jederzeit wieder losgehen könnte. Die Ukraine wäre also weiterhin Bittsteller, was Putin nur nützen kann.
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Der wiederum hätte sehr viel davon: Dass die russische Föderation auf Kriegswirtschaft umstellt, ist lange bekannt, wir wissen aber auch, dass es vor allem mit der Verfügbarkeit von Bau- & Ersatzteilen große Schwierigkeiten gibt. Die Versorgung könnte man massiv verbessern.
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Zudem muss die Inlandsproduktion hochgezogen werden. Wer im Monat 150 Panzer verheizt, aber im Monat nur 50 produzieren kann (Schätzung), kann sich anhand des Lagerbestands ausrechnen, wie lange das gut geht. Wir wissen, dass die bestehenden Kapazitäten nicht ausreichen.
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Die Anlagen werden bereits im 3-Schichtbetrieb 7 Tage die Woche geführt. Es braucht also neue Fabriken, Anlagen, Lager, Reparaturzentren etc. Sowas hinzustellen dauert. Eine kleine Atempause von einem Jahr, während man da nachzieht, käme sehr gelegen - für Russland.
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Kann man jetzt noch mehr dazu sagen, aber machen wir mal weiter. Also für die Ukraine, wenig zu gewinnen viel zu verlieren, fur Putin viel zu gewinnen, wenig zu verlieren. Also 0:2 für Russland. Weiter zum dritten Punkt.
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Militärisch haben beide viel zu gewinnen und weil der Krieg ja ausgesetzt ist, wenig zu verlieren. Es gibt aber einen ganz wesentlich Unterschied. Russland hält ja jetzt so Daumen x Pi 20% der Ukraine besetzt und Besatzungen sind nicht friktionsfrei.
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Wir wissen zB, dass die Ukraine Partisanentrupps ausbildet, dass sie Spionage-Teams unterhält (wie die Russen auch) und wir wissen, dass in den besetzen Gebieten es keineswegs eine russische Mehrheit gibt. Es gibt also viel zu tun für Russland.
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Herrschaft absichern, Befestigungen errichten, das Land ausplündern und das nicht nur bei Gerät und Material, sondern natürlich auch die Menschen darin. Russland hat bereits abertausende Ukrainer*innen deportiert. Die Rede ist von einigen Zehntausend Kindern alleine.
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Während einer Kriegspause kann Russlan die besetzten Gebiete ohne wahnsinnig großen Aufwand "auf Linie" bringen, Rekruten trainieren, aus seinem doch deutlich größeren Pool an "Menschenmaterial" schöpfen. Da ist die Ukraine quantitativ im Nachteil.
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Und nicht zuletzt, kämpft Putin gegen einen durch und durch korrupten Militärapparat. Die personellen "Umstrukturierungen", wie man die aktuell laufende Säuberungsaktion nennt, dient sehr wahrscheinlich dazu, das Heer effizienter zu machen, Reibungsverluste abzubauen.
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Das ukr. Heer ist nicht frei von Fehlern, Korruption auch nachwievor ein Thema, aber sicher nicht in dem Ausmaß wie das in Russland der Fall war und ist. Dh wer profitiert hier mehr von einer Pause? Jedenfalls Putin. Nicht nur, aber sehr wahrscheinlich deutlich mehr.
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Und vergessen wir in dem Zusammenhang auch nicht, dass die tausendfache Deportation von Ukrainer*innen auch kurzfristig politische und langfristig demographische Dimensionen hat. Auch das spielt für Russland. Also auch hier Punkt für Putin.
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Zusammenfassend muss man also anerkennen, dass die Ukraine von einer Aussetzung des Krieges wenig zu gewinnen, aber sehr viel zu verlieren hat, wohingegen es für Russland fast nur gut oder noch besser laufen kann. Es ist daher klug und opportun, das nun anzubieten.
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Man könnte jetzt noch einiges über Truppenkonzentrationen, möglichen Stoßrichtungen, Charkiw als eigenes Thema, Einsatz westlicher Waffen auf russischem Gebiet, technologische Unterlegenheit und vieles mehr sagen, aber lassen wir das mal auf Fragen ankommen.
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Letztlich muss man anerkennen, dass Putin Stratege ist und es für die Ukraine keinen Sinn ergeben kann, in so einen "Einfrierung des Konflikts" einzuwilligen. Und wer jetzt wieder die Friedensfahnen ausm Keller holt und auch nur eine Sekunde glaubt,....
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... dass es damit erledigt sein kann, versteht weder die Logik des Krieges, die (kürzlich geleakten) Pläne Putins oder das innere Dilemma der Ukraine und sollte imho einfach besser die Klappe halten.
Slava Ukraini!
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🇺🇦 #StandWithUkraine 🇺🇦
@threadreaderapp unroll
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@TinaRrrrr @arabrab55_i Es wird von Orgas wie der Hamas oder der Hisbollah in bewusst täuschender Absicht so verwendet, es hat aber in seiner Geschichte nichts damit zu tun und wird auch in der palästinischen Diaspora nicht einheitlich so verwendet oder gemeint. 1/x
@TinaRrrrr @arabrab55_i Am besten, finde ich, ist es vergleichbar mit dem Wort "Heimat". Das wird auch von manchen in bewusst täuschender Absicht in Besitz genommen. Wir haben alle eine Heimat, oder hätten zumindest gern eine, aber was das konkret ist, kann sich völlig unterschiedlich darstellen. 2/x
@TinaRrrrr @arabrab55_i Und genau so unterliegt das Wort auch einem Wandel. Heimat bedeutete vor 100 Jahren nicht das, was es heute bedeutet, wenn es von nem Plakat prangt. Es war sogar mal abwertend, also eher ein Schimpfwort. So ähnlich verhält es sich auch mit dieser Phrase. 3/x
2/x Er sagt jetzt zum 4. Mal in 4 Minuten, dass alle Entscheidungen nur mit damaligem Wissensstand getroffen werden konnten. Der Prüfbericht dürfte demnach nicht rasend lobend ausgefallen zu sein.
3/x "Mit dem Wissen von heute, würden wir vieles anders machen."
Hmm.... really?
"Wir müssen uns mit mehr Bedacht an die Öffentlichkeit wenden." Spaltung darf nicht stattfinden. "Wir gegen die, die gegen uns." Spaltung heilen dies das.
10 Jahre #Piratenpartei, seit gestern am Konto, und ich war (und bin) Bundesvorstand, Bundesgeschäftsführer, also Schatzi, internationaler Delegierter, Schiedsrichter, Landesvorstand und jedes Hütchen, das man sich so ausdenken kann. 1/x
Und, oh Boy, hab ich einiges erlebt in der Zeit. Geschichten, die ich weitestgehend nicht öffentlich erzählen kann, weil mir dann Klagen ins Haus stünden. Dinge, die meine Sicht auf die Welt wirklich schwer verändert haben. 2/x
Aber keine Sorge, ich schreibe kein Buch. Nach 10 Jahren hab ich nicht mal rasend viel zu sagen. Man erkennt irgendwann, dass unser System so gebaut ist, dass es den Mächtigen dient und dass Demokratie keine politische Größe ist. 3/x