Thomas Leurs Profile picture
Jun 23 18 tweets 3 min read Read on X
Die @berlinerzeitung hat heute einen Gastbeitrag veröffentlicht, in dem sich Jörg Arnold, früher Richter am Obersten Gericht der DDR und ehemaliger IM der Stasi, zu ukrainischen Selbstverteidigung äußert. Diese findet er nicht uneingeschränkt legitim. Ein Thread dazu 🧵 1/18
Schon der ganze Beitrag ist stark einseitig geschrieben. Arnold sieht den Krieg eskalieren und zählt auf, woran das liege: "ausufernde Waffenlieferungen der Nato-Staaten, unmittelbare Kriegshilfe wie Ausbildung auf dem Boden der Ukraine, Vorschläge zur Entsendung von 2/18
Bodentruppen, Angriffe von russischem Territorium mit westlichen Waffen". Russland kommt da komischerweise nicht vor. Schlussendlich zieht Arnold auch die "Nuklearkriegs"-Karte, um möglichst viel Angst zu schüren. 3/18
Etwas stolpere ich über den Satz: "Der Ukraine werden immer mehr Waffen und Geld für den Krieg geliefert." Das klingt so, als würden die Ukrainer die Waffen auf einen großen Haufen werfen und der wächst immer weiter an, bis er so groß ist, dass die Ukraine quasi 4/18
im Alleingang in drei Tagen (sorry, der musste sein) gen Moskau marschieren könnte. Dass die Waffen und das Geld direkt gebraucht und verbraucht werden, scheint Arnold nicht in den Sinn zu kommen. Dass Russland massiv aufrüstet, wird nicht erwähnt. Wieso auch? 5/18
Dann geht es um die UN-Charta Artikel 51. Die besagt, dass ein Mitglied der UN ein Recht auf Selbstverteidigung hat. Dort wird u.a. von kollektiver Selbstverteidigung gesprochen, also mithilfe anderer Mitgliedsstaaten. Wie diese Hilfe zur Selbstverteidigung genau aussehen 6/18
kann, legt die Charta nicht fest. Und das ist für Arnold ein Problem: Denn die Nato gibt zwar klare Begrenzungen für den Einsatz der Waffen auf russischen Gebiet, aber der Autor stellt trotzdem die Frage: Wer gibt die Garantie für das Einhalten dieser Begrenzung? 7/18
Laut Arnold wünsche sich Selenskyj keine Beschränkung, der ukrainische Präsident wolle auch auf russ. Einrichtungen der politischen Struktur schießen. Einen Beleg gibt Arnold für diese Behauptung nicht. Aber ich will das mal glauben, dass Selenskyj das irgendwann gesagt hat. 8/18
Soweit ich das aber mitbekommen habe, hat sich die Ukraine an die Vorgaben, die sie vom Westen für ihre Waffen bekommen hat, so gut wie ausnahmslos gehalten. Die Bild hatte - meine ich - mal berichtet, dass mit ner deutschen Rakete auf Russland geschossen wurde, als es noch 9/18
nicht erlaubt war. Finde den Beitrag auf die Schnelle nicht.
Dann stellt Arnold noch infrage, ob einzelne Staaten nicht doch schon Kriegspartei seien. Und er erwähnt die "Angehörige[n] der Streitkräfte der Nato-Staaten in der Ukraine", die sich dort befinden. 10/18
"Jedenfalls zu Ausbildungszwecken, wie es heißt", so Arnold. Will er den westlichen Verbündeten der Ukraine etwa unterstellen, es würden Nato-Streitkräfte an Kampfhandlungen teilnehmen? Ohne Belege zu bringen? Einfach mal was raushauen. Und Arnold wirft uns Eskalation vor?? 11/18
Dann schreibt Arnold etwas, bei dem ich wirklich schmunzeln musste. Er sieht in den deutschen Waffenlieferungen zumindest eine Neutralitätsverletzung. Das würde Russland zu Gegenmaßnahmen berechtigen. Und jetzt kommt's: Beispielsweise könne Russland ein deutsches Schiff 12/18
angreifen, das Waffen an die Ukraine transportiert. Ich denke mir erst: Hä, habe ich was verpasst. Wann ist das denn passiert? Aber es geht Arnold nur rein hypothetisch um ein solches Szenario. Und ich denke mir rein praktisch: Wie soll das denn funktionieren? 13/18
Ein deutsches Schiff voll mit Waffen fährt in Hamburg los um den kompletten europäischen Kontinent, durchs Mittelmeer, durch die Meerenge am Bosporus ins Schwarze Meer und dann? Wo soll es anlegen? Krym ist besetzt, der östliche Meeresabschnitt auch. Höchstens vielleicht 14/18
im Westen. Wie realistisch das ist und wieso Deutschland so etwas überhaupt tun sollte, in dem Wissen, dass da ja doch noch ein paar russische Kriegsschiffe im Meer rumdümpeln, verrät Arnold nicht. Also wieder nur sinnlose Panikmache. 15/18
Gegen Ende kommen die üblichen Namen, Heribert Prantl, Mearsheimer, Kujat und der arme Kant muss mit seinem Traktat "Zum ewigen Frieden" für Arnolds Argumentation herhalten. Dann unterstellt er Biden, dass er vor den US-Wahlen "keinerlei Interesse an Friedensverhandlungen," 16/18
an Deeskalation und einem Ende des Krieges" habe. Diesmal ist zumindest ein Artikel verlinkt. Sie führt zu einem Interview mit - tadaa - Mearsheimer. Wegen Paywall kann ich ihn nicht lesen. Kann mir aber denken, was drin steht. 17/18
Zum Schluss ist zu sagen: Die Ukraine an sich scheint für den Autor keine große Bedeutung zu haben. Er betrachtet alles durch die "geostrategische Brille". Übrigens: Das Wort Putin kommt in dem Beitrag genau null mal vor.

Den Gastbeitrag verlinke ich hier bewusst nicht. 18/18

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Thomas Leurs

Thomas Leurs Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @ThomasLeurs1

May 31
Liebe Freunde Osteuropas! Auch bei Romanen und Gedichtbänden ist im Mai einiges Neues erschienen. Gehen wir die Werke mal durch. (1/33) Image
Polen am Ende des 2. Weltkrieges. Das ist das Setting für Elvira Krupps Roman „Der verlassene Himmel“. Eine Familie zieht von Warschau gen Westen, in ein Niemandsland, das früher von Deutschen bewohnt war. Der Klappentext verspricht eine „Reise voller Gefahren, Verrat, (2/33) "Der verlassene Himmel" von Elwira Krupp
aber auch großer Gefühle und Lebensentscheidungen. Eine fesselnde Geschichte nach wahren Begebenheiten, die überrascht und unter die Haut geht.“ (3/33)
Read 35 tweets
May 30
Liebe Freunde Osteuropas! Schon wieder ist ein Monat rum. Und ich kann sagen, im Mai stapeln sich die Neuerscheinungen im Bereich #Osteuropa. Ich habe wie immer für euch den Büchermarkt im Blick und stelle euch heute und morgen 19 Sachbücher und 18 Romane/Gedichtbände vor. (1/43) Image
Die Schweizer Journalistin @LuziaTschirky hat schon aus Russland, Belarus, dem Kaukasus und der Ukraine berichtet. Am 24.2.2022 war sie in Kyjiw und berichtete vor Ort. Ihre Erlebnisse und persönlichen Eindrücke sind jetzt im Buch „Live aus der Ukraine erschienen“. (2/43) "Live aus der Ukraine" von Luiza Tschirky
@LuziaTschirky Ebenfalls um die Ukraine seit der Großinvasion geht es in @LissitsaAlex|s Buch „Meine wilde Nation: Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit“. Der CEO eines der größten Agrarunternehmen, um muss um das Überleben seines Unternehmens kämpfen. Das Buch verspricht skurrile (3/43) "Meine wilde Nation: Die Ukraine auf dem Weg in die Freiheit" von Alex Lissitsa
Read 43 tweets
May 26
"Hier war ein weiteres Ereignis bedeutsam für Kiew und die gesamte Region: Am 5. Dezember 1994 wurde das Budapester Memorandum unterzeichnet. Bis zu diesem Tag war die Ukraine nach Russland und den Vereinigten Staaten die drittgrößte Atommacht der Welt. (1/4)
In dem Memorandum verpflichten sich die Vertragsstaaten, das heißt die Russische Föderation, die Vereinigten Staaten und Großbritannien, der Ukraine im Gegenzug für die Aufgabe ihrer Atomwaffen die Unverletzlichkeit ihrer Grenzen zu garantieren. (2/4)
Seit 2014 ist diese Vereinbarung in der Ukraine eine Quelle neuen Grolls. Andrij Sahorodnjuk, ein ehemaliger ukrainischer Verteidigungsminister, kommentierte die Entwicklungen bitter: »Wir gaben die Schlagkräftigkeit auf und erhielten als Gegenleistung nichts. [...] (3/4)
Read 4 tweets
May 25
"Als ich am späteren Abend im Taxi zum Hotel fahre, fängt es an zu schneien. Draußen ist es stockfinster, die Regierung hat das Budget für die Moskauer Straßenlaternen halbiert. Wir fahren vorbei an den gefällten Monumenten, von denen nur noch die Granitsockel stehen. (1/4)
In düsterer Nacht sieht die Stadt deprimierend aus, wie kriegsgeschunden. Ich denke daran, wie viel von Russlands Identität sich gerade mit rasender Geschwindigkeit in Luft auflöst. Die endlosen philosophischen Diskussionen mit unserem Team über Musik, die Muppets und den (2/4)
Produktionsablauf sind vielleicht auch eine Reaktion auf diese rapiden Veränderungen. Kann sein, dass ich es mir nur einbilde, aber jedes Gespräch mit meinen russischen Kollegen scheint mir von verletztem Stolz grundiert. Die Menschen hier versuchen verzweifelt, (3/4)
Read 4 tweets
May 25
Liebe Freunde Osteuropas! Als Russland seine Großinvasion in die Ukraine startete, erinnerte das mittelosteuropäische Staaten wie Polen oder Lettland an ihre eigene Geschichte. Wie diese Traumata bis heute wirken, zeigen @kuiszjaroslaw und @KarolinaWigura in ihrem Essay. (1/10) "Posttraumatische Souveränität: Ein Essay" von Jarosław Kuisz und Karolina Wigura
@kuiszjaroslaw @KarolinaWigura In ihrem gut 170-seitigen Essay „Posttraumatische Souveränität“ legen die beiden Wissenschaftler den Fokus auf die kleineren Staaten zwischen Deutschland und Russland. Staaten, die sehr gut nachempfinden können, wie sich die Ukraine heute fühlt. Für Leute, die sich in (2/10)
@kuiszjaroslaw @KarolinaWigura Osteuropa etwas auskennen, ist es keine neue Information, dass Staaten wie Polen, Lettland oder Tschechien lange Zeit entweder überhaupt nicht existierten oder nur unter Fremdherrschaft. Somit gab es schon lange Warnungen aus dem Osten Richtung Deutschland, (3/10)
Read 11 tweets
May 10
Liebe Freunde Osteuropas! Oft wird auf die Kuba-Krise verwiesen, um Putins "Angst" vor einer Nato-Einkreisung zu rechtfertigen. Es heißt: "Die USA haben auch keine Atomraketen bei sich geduldet." Einen guten Überblick, was da 1962 los war, gibt der Historiker Bernd Greiner.(1/17) "Die Kuba-Krise: Die Welt an der Schwelle zum Atomkrieg" von Bernd Greiner
Die Hauptmotivation, mich mal in diese Geschehnisse einzulesen, war, um Argumente gegen diesen meiner Meinung nach falschem Vergleich der Kuba-Krise mit der „Nato-Einkreisung“ Russlands zu finden. Und mein Fazit der Lektüre wäre: Die Thematik ist durchaus komplex. (2/17)
Aber wie Greiner in seinem knapp 120 Seiten langen Büchlein am Anfang aufführt, müssen erstmal Sichtachsen in einem überwucherten Terrain freigelegt werden. Denn mit der Zeit wurde einiges überdramatisiert. (3/17)
Read 18 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Don't want to be a Premium member but still want to support us?

Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us!

:(