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Jul 5 18 tweets 3 min read Read on X
Mal eine etwas andere Betrachtung, bevor es morgen wegen des Fußballspiels und der erwarteten hohen Staatsgäste wieder unruhiger wird: Diese aktuelle Wolfsdebatte zeigt auch den gegenwärtigen Zustand der türkischen Bevölkerung in Deutschland und das Verhältnis der deutschen
Gesellschaft zu ihr. Oder besser: der praktisch nicht vorhandenen Beziehung zu ihr. Nach 60 Jahren türkischer Migrationsgeschichte in Deutschland gibt es in der öffentlichen Debatte keine Kompetenz, diese Wolfsgeste und ihre Grundlagen und Implikationen wirklich zu verstehen
oder differenziert zu diskutieren. Wir können nichts damit anfangen, sie nicht einordnen oder ihre kulturellen Chiffren entschlüsseln. Ob es an einem mangelnden Interesse an türkischer Geschichte und Kultur liegt oder an der Intransparenz und fehlenden Kommunikation der
türkischen Bevölkerung, ist eine andere spannende Diskussion. Es geht meiner Wahrnehmung nach innerhalb der türkischen Bevölkerung um etwas anderes: Die vielen jungen Burschen, die mich hier für meine Meinung beschimpfen, sind vermutlich nicht alle überzeugte Rechtsextremisten.
Sie sind aber empfänglich für diese Legendenbildung, der Wolfsgruß sei ein vereinendes Symbol aller Turkvölker und transportiere lediglich die Botschaft, man sei stolz darauf, Türke zu sein. So ein Märchen kann nur jemand glauben, der die gesellschaftliche und politische
Situation in der Türkei der 70er bis 90er Jahre und ihre Wirkung bis heute nicht kennt und nicht selbst erlebt hat. Die ab den 90er Jahren geborenen Nachkommen der ersten sogenannten Gastarbeitergeneration hier in 🇩🇪 aber auch die jungen Menschen in der Türkei haben nicht diesen
Erfahrungshorizont. Dieser Gruß war niemals ein politisch neutrales Erkennungszeichen unter Türken. Als meine Familie - wie zigtausende türkische Familien in Europa- fast 20 Jahre lang jeden Sommer über 2.000 km in die Türkei fuhr, hat sich z.B. niemand auf der Reise durch
Österreich, dem damaligen Jugoslawien oder Bulgarien unterwegs diesen Gruß zugeworfen, um einander als türkische Weggefährten zu erkennen. Niemand in der Türkei hat sich mit diesem Gruß versichert, auch Türke zu sein - das ist doch eine groteske Vorstellung und entlarvt diese
Argumentation als die verharmlosende Märchenerzählung, die sie ist. Es ging bei dieser Geste immer darum, sich einer gemeinsamen völkischen, rassistischen, gewaltbereiten Gesinnung zu vergewissern. Sie war und ist ein extremistisches Erkennungszeichen und wurde nach außen immer
als Einschüchterungsgeste gemeint und genutzt. Sie knüpft an an eine sehr alte und für sich politisch neutrale mythische Erzählung, die es in vielen zentralasiatischen Gesellschaften in verschiedenen Versionen gibt. Als konkretes Handzeichen hat sie im türkischen Kontext der
letzten 60 Jahre aber stets keine andere Bedeutung gehabt als die oben beschriebene politische, extremistische Identifikation. Der diskursive Erfolg ihrer Verharmlosung und Normalisierung als vermeintlich kulturelle, Gemeinschaft stiftende türkische Symbolik erklärt sich mit dem
Vorhandensein eines solchen Bedürfnisses: Die deutsche Integrationspolitik ist gescheitert. Die türkische Bevölkerung empfindet sich in ihren jüngsten Generationen als ethnisch nach außen abgeschottete, nationale Minderheiten. Ein an sich normales Phänomen, nämlich die
Identifikation mit der deutschen Gesellschaft, die Selbstwahrnehmung als auch-deutsch im Sinne einer hybriden Zugehörigkeit, wird in weiten Teilen der türkischen Bevölkerung als Verrat, als Anbiederung, als Ausverkauf der türkischen Identität markiert. Es gibt das intensive
Bedürfnis, sich der ausschließlich türkischen Identität zu vergewissern. Deshalb klammert man sich an die Idee, an die Vorstellung, jedes Element, das diese Vergewisserung bekräftigt, bewahren und verteidigen zu müssen. Die Aneignung und die Verteidigung eines
rechtsextremistischen Symbols, ist eine Ersatzhandlung für die Verteidigung der türkischen Selbstwahrnehmung und des türkischen Selbstwertes . Aber eben eine Ersatzhandlung, mit der rechtsextremistisches Gedankengut transportiert und verfestigt wird. Unsere Politik muss
diese differenzierte Einordnung verstehen und entsprechend handeln. Die rechtsextremistische Symbolik und die einschlägigen Organisationen müssen verboten werden. Gleichzeitig müssen politische Maßnahmen verdeutlichen, dass das kein Verbot, keine Abwertung türkischer Kultur und
Tradition sein soll. Unsere Innenpolitik muss sich darauf einstellen, dass ihre Versäumnisse in der Vergangenheit und ihre gegenwärtigen politischen Signale z.B. im Feld der Religionspolitik die türkische Bevölkerung in Deutschland in der Selbstwahrnehmung als nationale
Minderheit bestärkt hat. Das wird nicht mehr umzukehren sein. Also muss es eine kluge Politik geben, die diese selbst beförderte Ausgangslage berücksichtigt. Aktuell bin ich eher skeptisch, ob das gelingt.

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Jul 6
Diese extreme Aufwallung chauvinistischer Affekte vor dem Türkeispiel hat kaum mehr etwas mit Fußball zu tun. Es sind für die türkische Regierung willkommene Ablenkungen von der massivsten Wirtschaftskrise der letzten 20 Jahre, in die sie die Türkei geführt hat. Erdogan kennt
nur ein politisches Manöver: Die Schaffung von Feinden, zu deren Bekämpfung er die Massen aufruft. Das funktioniert hier in Deutschland noch besser als in der Türkei, weil die Menschen hier nicht unter den Folgen seiner Misswirtschaft leiden müssen. Diesen nationalistischen,
extremistischen Geist kriegt man nicht mehr in die Flasche, sobald er entfesselt wird. Fällt der Fußball als Bühne und Ventil für diese Affekte weg, wird sich diese Aggression anderweitig entladen. In der Türkei drohen bereits pogromartige Gewaltexzesse gegen syrische Flüchtlinge
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Jul 6
Die breite türkische Reaktion auf die Wolfsgruß Affäre - hier und in der Türkei - legt die Zustände einer totalitär kontrollierten, antidemokratischen Gesellschaft offen. Es geht dabei nicht um historische Fakten, mythologische, kulturelle Quellen oder dergleichen. Es geht
vielmehr darum, wie eine totalitäre Gesellschaft funktioniert. Bis vor einer Woche hätte jeder, der dieses Handzeichen im türkischen Kontext beobachtet, gesagt, dass da jemand das Handzeichen der MHP, der rechtsextremen Ülkücü Bewegung macht. Niemand hätte auch nur für eine
Sekunde gesagt, das hat nichts mit der politischen Landschaft in der Türkei zu tun oder das hat nichts mit dem türkischen Rechtsextremismus zu tun. Diese beinahe schizophrene Vehemenz, mit dem dieses Handzeichen nun von seiner tatsächlichen Bedeutung gelöst und zum vermeintlich
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Jul 6
Türkische Fans freuen sich, dass Deutschland gegen Spanien ausgeschieden ist. Heute werden sich die deutschen Fans freuen, wenn die Türkei gegen die Niederlande verliert. Dazu fällt mir folgende türkische Anekdote ein:
Ein reicher Gutsherr befiehlt seinem Diener, das Pferd zu
satteln, er will ausreiten. Der Diener soll ihn zu Fuß begleiten. So trabt der Gutsherr hoch zu Ross aus dem Dorf und der Diener läuft neben ihm her. Nach einer Weile weit außerhalb des Dorfes sieht der Gutsherr am Wegesrand einen Haufen Pferdeäpfel und hat die Idee, den
Diener zu demütigen. Er sagt ihm: „Wenn du einen dieser Pferdeäpfel isst, dann darfst du auf das Pferd und ich gehe zu Fuß!“ Der Diener zögert einen Moment, findet aber so sehr Gefallen an der Vorstellung, dass der Gutsherr zu Fuß neben ihm auf dem Pferd ins Dorf zurückkehren
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Jul 4
Differenzierung ist so wichtig: Ich habe nichts gegen Wölfe. Jack London‘s Wolfsblut ist keine faschistische Hetzschrift. Die Lupa Romana war so nett, zwei Menschenkinder zu retten. Und selbst dem bösen Wolf mache ich es nicht zum Vorwurf, Rotkäppchens Großmutter gefressen
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Jul 3
Wenn ich die national aufgewühlten Prachtkerle unter meinen Tweets sehe, frage ich mich, ob ihr Gebaren und ihre Wortwahl Ausdruck dieser edlen Identität sein sollen, auf die sie so stolz sind? Ich selbst bin nicht nur Deutscher, sondern auch Türke. Und weil ich das
Türkische meiner Persönlichkeit und meiner Familiengeschichte so schätze, bitte ich die stolzesten aller stolzen Türken: Hört auf, den Wolfsgruß als Symbol einer türkischen Identität zu verkaufen. Ihr wisst, dass das nicht stimmt. In der Türkei steht alles, was mit dieser
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Jul 3
Dieser menschenverachtende Hass tummelt sich auch unter meinen Tweets. Es ist zwar müßig, Faschos auf die Inkonsistenz ihrer Ausreden hinzuweisen. Aber dennoch: Ihr könnt nicht vorschieben, euer Verständnis von Türkisch-Sein sei als staatsbürgerliche Zugehörigkeit ohne jeglichen
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Brauchtum ist, ist auch der Wolfsgruß insbesondere im türkischen Kontext eine Identifikation mit einer konkreten ideologischen Überzeugung, nämlich einer faschistischen. Und er verhöhnt alle Opfer, die unter den Tätern dieser Ideologie gelitten haben und heute noch leiden.
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