1/Keine andere Wissenschaftsdisziplin zeigt sich so intensiv bemüht um die eigene Geschichte wie die Historiographie. Logisch, möchte fast meinen. Ich weiß nicht, ob das irgendwen außerhalb des Faches interessiert. Für die Selbstverständigung halten Historiker*innen das für enorm
2/wichtig. Auch ich befasste mich von Anfang mit der Geschichte des Faches, aber ich hege auch darüber hinaus ein sehr großes Interesse an der Geschichte aller Wissenschaften. Nun erschien ein Sammelband – Generation im Aufbruch –, in dem 26 Historiker und 2 Historikerinnen (das
3/sagt bereits vieles über die Geschichtswissenschaft dieser Generation) aus den Geburtsjahrgängen 1933 bis 1942 über ihr Leben berichten. Es ist die Kohorte nach Hans Ulrich Wehler, Thomas Nipperdey, Gerhard A. Ritter, Hermann Weber, Reinhard Koselleck, Imanuel Geiss, Rudolf
4/Vierhaus, Helga Grebing, Hans Mommsen, Wolfgang J. Mommsen u.a. Hier geben u.a. Auskunft Heinrich August Winkler, Jürgen Kocka, Winfried Schulze, Eberhard Kolb, Wolfgang Reinhard, Alexander Demandt, Christoph Kleßmann, Hartmut Kaelble, Dietrich Beyrau, Heinz Schilling oder
5/Gisela Bock. Vollständig ist der Band nicht, es fehlen z.B. Lutz Niethammer, Reinhard Rürup, Lothar Gall, Hans-Peter Schwarz oder Michael Stürmer – aus ganz verschiedenen Gründen. Die Beiträge sind überwiegend erstaunlich langweilig, eintönig und stilistisch pennälerhaft ge-
6/schrieben. Ich wüsste auch nicht, wen das ganze name-droping interessieren sollte. Fast niemand behandelt die wirklich spannenden Fragen, wir haben es hier überwiegend mit Männern zu tun, die einst viel Macht hatten: z.B. wie sie hoffnungsvolle Nachwuchskräfte ausbremsten,
7/Karrieren zerstörten, durch Gutachten Forschungsgelder verweigerten etc. pp. Stattdessen stilisieren sich fast alle zu den Königen ihrer Disziplin, niemand ist von einem schlechten Gewissen geplagt, niemand von Selbstzweifel. Auch nur ein oberflächlicher Blick in jedwede
8/Wissenschaftsgeschichte „verrät“, wie absurd solche Selbstinszenierungen sind. Und offenbar ist die deutsche Geschichtswissenschaft der letzten Jahrzehnte auch die einzige Wissenschaftsdisziplin in der Wissenschaftsweltgeschichte, in der es keine Fehler, keine Irrwege, keine
9/Fehlannahmen, keine Skandale, keine Verstöße gegen das Wissenschaftsethos gab, auch keine Drangsalierungen, keine Ausgrenzungen. Von Leuten, die viel daraufsetzen, die Erklärer der Nation zu sein, hätte man am Ende ihres wissenschaftlichen Lebensweges einen Hauch mehr Selbst-
10/zweifel, einen Hauch mehr selbstkritischen Rückblick erwarten dürfen. Aber gut, sie gehören noch einer Professorengeneration an, die Widerspruch nicht wirklich gewohnt war. Vielleicht wagt sich mal jemand an ein Buch über gebrochene Karrierewege, über Historiker, die wichtig
11/wurden, aber nie eine entsprechende akademische Karriere in einer Institution in Deutschland machen konnten.
Die Herausgeber schafften es übrigens auch, unter 28 Historikern zwei aus dem Osten zu Wort kommen zu lassen. Das ist im Prinzip auch ok, weil aus dieser Alterskohorte
12/von den Lebenden nicht viel mehr in Frage gekommen sind. Kaum eine andere Disziplin war in der DDR so als Legitimationswissenschaft eingespannt und umgebaut worden wie die Geschichtswissenschaft – nur Philosophie, Wirtschaft und Jura konnten da mithalten als Steigbügelhalter
13/der kommunistischen Macht. In diesem Band legen der Sozialhistoriker Hartmut Zwahr und der Experte für die Frühe Neuzeit Günter Vogler Zeugnis ab. In den letzten dreißig Jahren sind aberdutzende Rechtfertigungsschriften, getarnt als Biographien, von früheren SED-Historikern
14/herausgekommen. Ich glaube, ich kenne alle. Vogler und Zwahr haben nach 1990 unterschiedliche Wege zurückgelegt – institutionell. Zwahr blieb Professor, Vogler musste alsbald gehen. Beide blieben sehr produktiv, beide gehörten auch in der DDR zu den produktiven und bemerkens-
15/werten Historikern, wenn beide natürlich auch ideologischen Müll produzierten, aber ihre Hauptwerke haben Bestand. Doch das wird man von ihren autobiographischen Niederschriften nicht behaupten können. Zwahr setzt die Tradition fort, heimlich immer im Widerstand, jedenfalls im
16/Widerspruch gelebt zu haben. Das SED-Mitglied Zwahr schreibt in seinen Notizen praktisch nichts über sein Mittun in der Diktatur, nichts über seine SED-Parteiarbeit–sagen wir mal so, das ist nicht sonderlich glaubhaft und für einen Historiker auch nicht sonderlich glaubwürdig.
17/Auch Vogler war natürlich SED-Mitglied, auch er mit Funktionen überhäuft. Er schreibt darüber nichts, geschenkt. „Günter Mertens“ arbeitete seit 1976 im In- und Ausland für das MfS. Auch darüber sagt Vogler kein Wort, stattdessen tut er so, als es sei es unrechtmäßig gewesen,
18/dass er nicht mehr Professor sein durfte. Hatte da kein Herausgeber Lust, mal nachzufragen, sagt mal, wie war das eigentlich in der Diktatur, ihr schreibt ja so, wie eure Kollegen aus Bielefeld, Bochum, München, Hamburg oder Köln?
Das ist alles kein Zufall. Die DDR wird auf
19/allen Ebenen immer mehr ihres Diktaturcharakters beraubt. Jüngst erschien eine Biographie über den überaus produktiven Leipziger Historiker Karl Czok (1926-2013) – auch er war offenbar, folgt man seinem Biographen, als Geschichtsprofessor in nichts verstrickt, musste keine
20/Kompromisse eingehen, konnte irgendwie lehren und forschen und schreiben wie es ihm beliebte – glaubte man seinem Biographen, der die SED-Mitgliedschaft nicht einmal erwähnt. Die gelegentlichen Hemmnisse und Hindernisse unterschieden sich offenbar kaum von denen im Westen.
21/Ist vielleicht das Verhalten eines Mannes wie Eduard Winter, der in gleich vier politischen Systemen Karriere machte, prototypisch?
Jüngst kam auch ein anderes Buch heraus. Darin geben 17 SED-Geschichtspropagandisten Auskunft über ihr Wirken und Leben. Mit selbst waren von
22/diesen nur vier namentlich vorher bekannt – ich befasse mich seit Jahrzehnten mit Geschichtsschreibung und -propaganda in der DDR. Und ich absolvierte den Geschichtsunterricht von der fünften Klasse an (lediglich an der Abendschule, als ich Abitur nachträglich ablegte, war ich
23/vom Geschichtsunterricht befreit – der Lehrer, ein SED-Genosse natürlich, meinte, das wäre für alle Beteiligten das Beste, keine Ahnung, ob das stimmte, aber auf mich traf es zu) – mit das Unerträglichste und Schlimmste, was ich an der Schule erlebte. Aber nicht einmal diese
24/Vollhonks schafften es, mir meine Liebe und mein Interesse für Geschichte auszutreiben. Jedenfalls kommen in diesem Band 16 Männer und eine Frau zu Wort, die letztlich für Methode und Inhalt des Geschichtsunterrichts zuständig waren. Was die sich in die Taschen lügen, ist
25/schon erstaunlich, aber dass sie auch versuchen, ihre Leserschaft für dämlich zu erklären, ist schon dreist. Auch hier ist von der SED, der Diktatur, den Ansprüchen an Geschichte, Geschichtspropaganda und -unterricht nichts von einigermaßen Belang zu erfahren. Die größten
26/Lügenbolde und schlimmsten Ideologen stellen sich als Verfechter der reinen Wissenschaft dar. Ganz und gar fürchterlich ist das zu lesen und verursacht bei mir jedenfalls geradezu körperliche Schmerzen.
Ich habe in den letzten Jahren immer wieder einmal Zweifel gehabt, ob es
27/nicht vielleicht zu hart war, wie der von uns 1990 gegründete Unabhängige Historiker-Verband (UHV) voller Wut, Verachtung und Brachialgewalt gegen die leninistische Geschichtswissenschaft vorging. Wir haben (fast) alle dafür hart bezahlt – niemand von uns ist etwas im bundes-
28/deutschen Wissenschaftssystem geworden. Manchmal fragte ich mich, ob es den Preis wert war, den wir bezahlen mussten dafür, dass wir alle Regeln des Wissenschaftsbetriebes verletzten und nicht mitmachten, gegen die Honoratioren in Ost und vor allem West aufbegehrten, sie
29/unnachgiebig kritisierten, sie auch durch den Kakao zogen. So haben wir z.B. im Juli 1994 Olaf Groehler (1935-1995) als Mitarbeiter des MfS enttarnt. Den Anlass hatten wir uns nicht ausgesucht: Er hielt auf Einladung von Ministerpräsident Stolpe den Festvortrag im Brandenburg-
30/ischen Landtag über Widerstand in Deutschland. Armin Mitter, Stefan Wolle und ich waren entsetzt und verteilten vor dem Landtag Flugblätter, auf dem wir die IM-Tätigkeit beschrieben. Groehler war einer der prominentesten SED-Historiker, Parteisekretär, Autor vieler Bücher und
31/arbeitete nun in dem neuen Forschungsschwerpunkt in Potsdam, einer Ansammlung von SED-Historikern und wenigen integren Historikerinnen. Die Leitung übte Jürgen Kocka aus. 1993 war bereits eine heftige Debatte über das Zentrum entbrannt: Armin Mitter und Stefan Wolle warfen dem
32/Zentrum vor, nur alte SED-Kader ohne Überprüfung zu beschäftigen und zugleich keine in der DDR Drangsalierten zum Zuge kommen zu lassen. Unisono wiesen das die Verantwortlichen zurück. Als wir Groehler nun überführten und damit exemplarisch zeigten, wie die Personalpolitik
33/ausgerechnet dort lief, wo über die DDR-Geschichte verhandelt werden sollte, war das Entsetzen groß: Nicht über die verfehlte Personalpolitik und die Lügen der SED-Historiker, sondern über uns. Von mehreren Verantwortlichen bekamen wir Drohbriefe, die wir nach überstandenen
34/Lachanfällen gut archivierten – irgendwann würde uns das keiner mehr glauben. Als Groehler starb, warfen uns seine früheren kommunistischen Genossen sogar vor, wir hätten ihn in den Krebs getrieben und somit in den Tod. Und wir erhielten eine Anzeige, auf die ich reagierte –
35/die Staatsanwaltschaft schloss die Akte.
In den hitzigen Debatten der frühen 1990er Jahre schrieb ich einmal in einem Aufsatz über den UHV, spätere Generationen würden uns, die Jungjakobiner, eines Tages wegen unserer Nachsicht tadeln. Heute schaue ich Tag für Tag in neue
36/Publikationen und lerne ein kuschliges Land namens DDR kennen, in dem ich leider nicht leben durfte.
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1/1989 fuhren auf den Straßen der DDR etwa 3,8 Millionen Privat-PKW. Etwa zwei Millionen Trabis und knapp 700.000 Autos der Marke Wartburg verursachten den typischen Zwei-Takter-Krach. Hinzu kamen Lada (330.000), Škoda (300.000) sowie in weitaus geringeren Stückzahlen andere
2/Modelle aus der UdSSR, Rumänien und Polen. Das Straßenbild in der DDR wurde aufgefrischt durch 22.000 VW Golf, 11.000 Mazda, 5000 Zastava, 2500 Citroën und 1000 Volvos sowie mehrere Tausend andere, privat eingeführte Westwagen diverser Marken. Autoprobleme gingen fast allen zu
3/Herzen. Etwas mehr als die Hälfte aller Haushalte besaß statistisch einen PKW. Mehr als 60 Prozent der Privatautos waren älter als zehn Jahre. Der dadurch bedingte hohe Bedarf an Ersatzteilen und Reparaturen konnte nicht ansatzweise gedeckt werden. Auf einen Neuwagen mussten
1/1990 bot der maritime Schiffbau in der DDR 55.000 Menschen einen Arbeitsplatz, darunter allein 22.000 in Rostock. Mitte 1992 waren es nur noch 16.000, die in diesem Wirtschaftssektor in Ostdeutschland Arbeit hatten, drei weitere Jahre später nur noch etwa 7000. Die Transfor-
2/mation der ostdeutschen Werftindustrie von der Planwirtschaft zur Marktwirtschaft war eines der öffentlich besonders heftig umstrittenen Wirtschaftsbeispiele und fast immer waren sich alle einig, dass diese Geschichte ein besonders „klassisches“ Beispiel für das Versagen der
3/Treuhandanstalt sei.
Die Historikerin Eva Lütkemeyer hat in ihrer Dissertation alle verfügbaren Quellen herangezogen, auch die öffentlichen Debatten reflektiert, und ganz nüchtern die „Wendemanöver“ – was für ein treffender Titel bei einer Arbeit über die Werftindustrie – 1990
1/Der Berliner Journalist Andreas Ulrich, Jahrgang 1960, lebte einige Jahre, von 1960 bis 1970, mit seinen Eltern in der Wilhelm-Pieck-Straße 94, vormalig Lothringer Straße 63 (1873), seit 1994 Torstraße 94 in Berlin-Mitte. Jahrzehnte später interessierte ihn, was aus den
2/einstigen Hausbewohnerinnen und Hausbewohnern geworden ist. Mit detektivischem Gespür recherchierte er ihren Lebenswegen nach. Als er mit seiner Arbeit begann, wohnte niemand mehr in dem schmucklosen Haus, der dort bis 1990 gelebt hatte. Nebenbei bringt er so auch eine gute
3/Erklärung, warum in Berlin-Mitte praktisch niemand für Hertha oder Union, sondern „alle“ für Bremen, Dortmund, Stuttgart, München oder Köln sind.
In 19 kurzweiligen, sehr gut zu lesenden Kapiteln spürt Ulrich den Biographien und Schicksalen nach. Vor des Lesers Auge entfaltet
1/Am 1. Oktober 1904 schrieb Lothar von Trotha (1848-1920) einen berühmt-berüchtigten Befehl in Deutsch-Südwest-Afrika. Es sollten keine männlichen Gefangenen mehr gemacht, sie sollten alle erschossen werden. Anfang Mai 1904 war ihm der Oberbefehl über die Truppen in Deutsch-Süd-
2/west-Afrika übertragen worden. Er sollte den Aufstand der Herero niederschlagen. Mit dem zitierten Befehl begann eine neue Form der Kriegsführung – die Forschung stuft diese als ersten Genozid im 20. Jahrhundert ein. Der Aufstand der Hereros wurde blutig niedergeschlagen, zehn-
3/tausende Männer, Frauen und Kinder in der Wüste in wasserarme Konzentrationslager eingesperrt. Aus Protest erhoben sich auch die Nama, die anders als die Herero nun einen Guerillakampf erprobten. Auch sie wurden schließlich in Konzentrationslager zusammengepfercht. Zehntausende
1/Es gibt einen Typus radikaler Staatskritiker, die ich moralisch nie verstehen werde: Sie lehnen den „bürgerlichen“ Staat ab,sie hassen ihn mit jeder Faser ihres Körpers und ihrer Seele, aber offenbar nicht so konsequent, um sich nicht doch von ihm lebenslang bezahlen zu lassen.
2/Der italienische Kommunist Domenico Losurdo (1941-2018) zählt zu diesem unentschlossenen Hasstypus, der sich als Universitätsprofessor auch noch die bevorstehende Revolution vom verhassten Staat bezahlen lassen wollte. In seiner marxistisch-leninistischen, Stalin, den realen
3/Kommunismus in Europa und China anhimmelnden Welt gilt Losurdo mit seinen über fünfzig Büchern und seinem lebenslangen politischen Wirken für den dogmatischen Kommunismus a la „Partei neuen Typus“ und „Diktatur des Proletariats“als einer der größten Geistesriesen in den letzten
Die Autorin ist als Historikerin bislang mit beeindruckenden Arbeiten zur Ukraine und zum Balkan hervorgetreten. Ihr neuestes Buch, eine Geschichte Russlands von 1900 bis zur Gegenwart, wäre mit „beeindruckend“ nur unzureichend beschrieben: Es ist ein exzellentes, sehr gut ge-
2/schriebenes, flüssig zu lesendes,mit vielen anschaulichen Beispielen versehenes,sehr gut komponiertes, der Chronologie folgendes Buch, das Fachleute ebenso zur Hand nehmen und daraus lernen können wie historisch Interessierte mit wenig Vorkenntnissen.
Der rote Faden, den Boeckh
3/verfolgt, ist die Frage, wie der russische und sowjetrussische Staat die Gesellschaft einhegte, unterdrückte, lahmlegte, letztlich verstaatlichte. Das wurde noch durch die Vertreibung Hunderttausender Menschen ins Ausland verstärkt. Boeckh beschreibt einen (sowjet)russischen