Thread by @semanthis

Vor rund 2 Jahren ich habe beim Versuch meiner persönlichen #Coronaaufarbeitung darüber geschrieben, dass wir es im Grunde mit 2 Pandemien zu tun haben, die zwar durch den gleichen Erreger verursacht werden in ihrer Natur aber verschieden sind:

Die eine Pandemie handelt von einem hochansteckenden Virus, das innerhalb von Tagen im Stande ist eine menschliche Lunge zu zerstören, so dass die Betroffenen innerhalb von Stunden an ihren eigenen Lungensekreten ersticken.

Diese Pandemie ist im Frühjahr 2020 erst durch Wuhan, dann durch den Iran, durch Norditalien, Madrid, durchs Elsaß schließlich durch Belgien, durch Südengland und mit einigen Wochen Verzögerung schließlich durch New York gefegt.

Danach gelangte das Virus nach Südamerika und traf dort auf ein Gesundheitssystem und eine Infrastruktur, die dieser Katastrophe in keinster Weise gewachsen war. Die Bilder aus Manaus aus dieser Zeit sehen wie aus einem Katastrophenfilm aus Hollywood aus.

Diese Pandemie ist in mehreren Wellen zeitlich versetzt über die verschiedenen Kontinente hereingebrochen und hat wie historische Pandemien eine Spur des Todes insbesondere in die ältere Bevölkerung geschlagen.

Eine letzte solche Corona-Welle haben wir hoffentlich letzten Winter in China erlebt. Impfung, Immunität durch vorangegangene Infektionen, verbesserte Behandlungs-Leitlinien, aber nicht zuletzt die Tatsache...

...dass potentiell besonders Vulnerable in den vergangenen Pandemiewellen bereits verstorben sind hat diese Pandemie zu einem vorläufigen Ende gebracht.

Politische Maßnahmen, die diese Gefahr adressieren scheinen zumindest im Augenblick nicht mehr gerechtfertigt zu sein. Niemand fordert aktuell Reiseverbote, Kontaktbeschränkungen oder Schulschließungen. In diesem Sinne kann man sagen, dass die Pandemie zu Ende ist...

...zumindest fürs Erste.

Überlagert von den schrecklichen Bildern aus Wuhan, Madrid und New York scheint es, als habe man die zweite - zeitgleich begonnene, ebenfalls durch das Sars-CoV-2-Virus ausgelöste Pandemie übersehen:

Während die Wuhan-Bergamo-Pandemie eher der mittelalterlichen Pest ähnelte die zweite Pandemie eher der "weißen Pest" - der Tuberkolose. Sie fällt nicht krachend durch die Tür über die Gesellschaft her, sondern kriecht durchs Schlüsselloch und höhlt langsam und unauffällig...

Gesellschaften von innen aus. Die Opfer dieser weißen Pest sind nicht unmittelbar sichtbar, sie verstopfen keine Intensivstationen und müssen nicht mit Militärlastwagen abtransportiert werden.

Vielmehr sind ihre Opfer Menschen, die nach einer "Erkältung" bemerken, dass sie es nicht mehr schaffen mit dem Rad zur Arbeit zu fahren. Das Opfer ist die Mathelehrerin, die sich beim Zusammenzählen der Fehler in der Klassenarbeit 4 mal verrechnet...

der Taxifahrer, der nach 4 Stunden Arbeit rote Ampeln übersieht aber auch der Privatdozent, der bemerkt, dass er seit seiner "Erkältung" nur noch billigen bulgarischen Wein von Penny mag.

Es sind die zig-Millionen an Long- und PostCovid erkrankten Menschen die nach und nach bemerken, dass sie einfach nicht mehr auf die Beine kommen. Wie von Motten zerfressen fühlen sich diese Menschen - äußerlich weitgehend unversehrt aber innen wie zerfressen.

Und viele können nicht mehr arbeiten, Schul- und Uniabschlüsse rücken in unerreichbare Ferne, die eigenen Kinder werden zur Belastung, Sozialkontakte auf ein Minimum reduziert.

Und noch weiß keiner wie diese Geschichte für die Betroffenen zu Ende geht.

Ein weiteres mal erweist sich, dass die Janusköpfigkeit des Sars-CoV-2 Virus Gesellschaften überfordert. Diese Janusköpfigkeit scheint der evolutionäre Kniff zu sein mit dem das Virus das kulturelle Immunsystem der Menschheit überwunden hat.

Siehe dazu mein Tweet von 09/2021:

https://x.com/semanthis/status/1438551208994775040

Während man Corona anfangs für einen Schnupfen hielt und darum das Desaster in den ICUs nicht für möglich halten wollte, ist es nun so, dass man daraus, dass das Monster kein Desaster auf den ICUs mehr produziert auf seine Abwesenheit schließt...

...Aber Tuberkolose hat ebenfalls kein Desaster auf den ICUs produziert und war dennoch die definitiv tödlichste Seuche der Neuzeit. Wahrscheinlich würden wir dem Problem prolongierter Corona-Erkrankungen sehr sehr viel mehr Aufmerksamkeit schenken...

wenn die komplexe Krankheit durch ein ganz anderes Virus ausgelößt würde. Aber die Realität ist einfach diese, dass wir es mit einem Virus zu tun haben, der als Akuterkrankung alte übergewichtige Männer umbringt und als chronische Erkrankung schlanke sportliche Frauen...

...langsam zu Invalieden macht. Beide Folgen des Virus fordern von der Gesellschaft jeweils unterschiedliche Massnahmen. Die eine Folge erfordert Lockdowns und Schulschließungen, die andere erfordert eine langfristige Adaption.

Konkret bedeutet das: wir brauchen Kulturtechnik - kulturelle Praktiken und Techniken mit denen wir als Gesellschaft uns vor Corona schützen können.

So wie wir irgendwann in der Naturgeschichte des Menschen gelernt haben, dass es besser ist vor die Höhle zu gehen statt in die Höhle zu kacken, so wie wir gelernt haben Essen zu kochen, sauberes Wasser zu trinken...

die Menschheit hat gelernt mit Besteck zu essen, sich die Hände zu waschen, sich von Infizierten fernzuhalten...

später hat man Kanalisationen gebaut, Toiletten mit Wasserspülung erfunden, hat gelernt, dass man Lüften muss, hat Impfkampagnen initiiert, sogar eine eine #Impfpflicht eingeführt usw.

in der 2. Corona-Pandemie lernen wir erneut die Bedeutung von Raumlufthygiene, niederschwelligen Impfangeboten und von Selbstisolation akut infizierter. Es gibt angesichts des Nutzens dieser relativ unaufwändigen Massnahmen (Maske, Luftfilter, Impfung, Homeoffice)...

eigentlich keine vernünftige Ausrede mit der Implementierung dieser Kulturtechniken unmittelbar anzufangen. Auch in wirtschaftlicher Hinsicht wird sich eine solcher kultureller Wandel unmittelbar milliardenfach auszahlen.

Der Gewinn solcher Massnahmen ist nicht nur die Verhinderung von chronischen Krankheiten, auch nicht Millardeneinsparungen im Gesundheitssystem, sondern die einzelnen Menschen haben - insbesondere in einer alternden Gesellschaft einen Gewinn an Lebensqualität...

...denn die meisten von uns haben Besseres zu tun als krank zu sein, weder Schnupfen, noch Husten noch sonstige Infektionen sind lebensqualität-steigernde Erfahrungen.

Neben einem ohnehin im Zeitgeist verankerten generellen Unwillen zu Veränderung, scheint es mir vor allem die durch die Jansköpfigkeit des Virus verursachte Verwirrung zu sein, die unsere Gesellschaft daran hindert endlich das Notwendige zu tun.

P.S. meine "persönliche Corona-Aufarbeitung" von vor 2 Jahren findet sich noch immer als angehefteter Tweet an meinem Profil hier:

https://x.com/semanthis/status/1531958348211445760