An den Universitäten orientiert sich die Platonlektüre unsinnigerweise an der Kategorie ‚Hauptwerk‘ (z. B. Politeia) oder an Ordnungsbegriffen wie ‚Ontologie‘ (z. B. Sophistes) oder ‚Erkenntnistheorie‘ (z. B. Theaitetos).
Das ist unsinnig. /1
Es unterwirft die platonischen Dialoge modernen Vorstellungen von Philosophie und ihren Fragerichtungen – Dialoge, in denen überhaupt erst um den Begriff der Philosophie selbst gerungen wird.
Wie macht man es besser? /2
Platon hat seine Dialoge mit einem weitreichenden Verweisungssystem aus Personen, Daten, Zitaten und Referenzen versehen. Anhand dieses Verweisungssystems kann man sich Wege durch die Dialoge bahnen, die von Platon selbst angelegt wurden.
Ein paar Beispiele: /3
1) Das Drama des Sokrates. – Auch wenn Sokrates Platons bevorzugte Lehrerfigur in vielen seiner Dialoge ist, widmet Platon eine Reihe von Texten der Entwicklung, die von der Verärgerung einiger athenischer Mitbürger über Sokrates bis zu dessen Hinrichtung reicht. /4
Im Menon treffen wir seinen späteren Ankläger Anytos, der – anders als die ebenfalls krass unterlegenen Gesprächspartner Thrasymachos (Politeia I) und Kallikles (Gorgias) – seinem Ärger mit einer Drohung Luft macht. Im Euthyphron kommt Sokrates in die Königshalle für eine … /5
… Anhörung zu einer Klage des Meletos, die genau das Thema des Gesprächs betrifft, das Sokrates mit Euthyphron dort bespricht. Die Apologie setzt sich mit beiden Klagen auseinander. Im Kriton sitzt Sokrates bereits im Gefängnis, im Phaidon trinkt er den Schierling. /6
2) Das Drama des Alkibiades. – Alkibiades war nicht nur eine schillernde Persönlichkeit, die mehr als einmal die Geschicke Athens bestimmt hat, sondern auch ein Kamerad des Sokrates aus dem Peloponnesischen Krieg und sein enger Freund, dem Sokrates das Leben gerettet hat. /7
Im Protagoras treffen wir ihn noch ganz jung unter den Zuhörern. Im Alkibiades I (den ich als echt annehme) trifft sein politischer Ehrgeiz auf Sokrates‘ Mahnung zur Selbsterkenntnis. Im Charmides – Platons Onkel –, in dem es um die Tugend der Besonnenheit geht, ist … /8
Alkibiades zwar nicht explizit thematisch, aber am Beispiel des Charmides wird dasselbe Problem exemplarisch durchgeführt: Besonnenheit und Selbsterkenntnis vor dem Hintergrund politischen Ehrgeizes (Charmides wird politisch unter den dreißig Oligarchen Karriere machen). /9
Im Symposion tritt er schließlich am Ende auf, sturzbetrunken und im Gewand des Dionysos, eine Anspielung auf den Skandal des Hermienfrevels und vielleicht auch das Scheitern des Sokrates, Alkibiades Besonnenheit beizubringen. /10
3) Der waghalsige Streit mit den Sophisten. – Dass Sokrates immer gegen die Sophisten gewinnt, ist ein Märchen. Tatsächlich gehen die Gespräche oft schief und sind gerade deswegen so interessant. Im Protagoras stellt sich Sokrates dem berühmten Sophisten zur Frage, ob … /11
… die Lehre des Protagoras den Menschen tugendhaft macht. Hier brilliert Sokrates noch, indem er mehrfach die Inkompetenz des Protagoras und damit die Nichteinhaltung seines Anspruchs offenlegt – er steht aber auch allein gegen den Sophisten und sein Publikum. /12
Was im Protagoras lustig ist, ist im Hippias schon etwas unangenehm – Sokrates stellt Hippias förmlich und zerlegt ihn nach allen Regeln der Kunst: die thematische Unwissenheit als Problem spiegelt sich in der operativen Unwissenheit des Hippias über seine Selbsttäuschung. /13
Im Euthydemos trifft Sokrates auf die anarchische Eristik, die sich hart an der Grenze zum Schabernack bewegt. Der Dialog ist ziemlich lustig – z. B. enthält er den wohl ersten ‚Deine Mudda‘-Joke –, aber er zeigt auch deutlich die Grenzen der Elenktik des Sokrates auf. /14
Noch deutlicher wird diese Grenze im Gorgias, wo Sokrates nach Gesprächen mit Gorgias und Polos auf Kallikles trifft. Dessen heftige Polemik über ethisches Verhalten und persönliche Angriffe auf Sokrates werden von diesem gekontert – und plötzlich zieht sich Kallikles in … /15
… Schweigen zurück. Sokrates ist der Gesprächspartner abhandengekommen, was dieser in einem Monolog überspielt – aber auch darin deutlich Grenzen des philosophischen Gesprächs zeigt. Auch im Menon begegnet Sokrates dem titelgebenden Sophisten überlegen – und macht … /16
… sich in einer Nebenhandlung, in der er hart mit Anytos umgeht und sich diesen unversehens zum Feind macht. Platon stellt Sokrates, bei aller diskursiven Kompetenz, in den Sophistendialogen also immer auch als Randgänger dar, dessen Praxis Grenzen hat und ihn gefährdet. /17
4) Platons Einführung und ihr Kontext. – Es gibt genau drei Dialoge, die durch die Rahmenhandlung und die wechselnden Lehrer-Schüler-Konstellationen verbunden sind: Theaitetos, Sophistes, Politikos. Alle drei sind explizit Einführungen in Platons Verständnis von Dialektik, … /18
… mit einem Anfang bei Sokrates, dessen Elenktik schließlich in einem neuen Ansatz überwunden wird. Es gibt lehrbuchartige Formeln und kleinteilige didaktische Anleitungen, zentrale Themen und eine Verbindung von Theorie und Praxis. Wer wie Platon denken lernen will, ist … /19
… hier genau richtig. Das Umfeld dieser Trilogie wird über Referenzen genau bestimmt: Theaitetos und Sophistes beziehen sich beide auf den Parmenides, der als Einführung in die eleatische (im Unterschied zur platonischen) Dialektik dient. In der Rahmenhandlung … /20
… begibt sich Sokrates zwischen Theaitetos und Sophistes zur Königshalle, wo der Euthyphron stattfindet, der seinerseits auf die Apologie verweist, ebenfalls ein Lehrbeispiel dialektischer Vermittlung. Das Thema des Theaitetos greift Fragen auf, die schon im … /21
… Menon thematisch sind, wo ja auch Sokrates‘ späterer Ankläger sich findet, auf den jener in der Apologie antworten wird. Schließlich kommt auch Euthyphron bereits im Kratylos vor, der ebenfalls Diskussionsthemen aus dem Theaitetos und dem Sophistes vorwegnimmt. /22
Der Herakliteer Kratylos war außerdem Platons erster Lehrer – womit drei Lehrerfiguren versammelt sind: Kratylos, Sokrates und der Fremde aus Elea. Wer also Platon in aller Kürze kennenlernen will, liest die Trilogie aus Theaitetos-Sophistes-Politikos und ergänzt dann aus … /23
… Kratylos, Menon, Parmenides, Euthyphron und Apologie. Das ist das Referenzzentrum der platonischen Dialoge.
Die Politeia erscheint vor diesem Hintergrund wie eine frühere Einführungsschrift, die außerdem möglicherweise einen anderen Adressaten hat als die anderen … /24
… Dialoge: Dionysios II von Syrakus, den Tyrannen, den Platon zeitweise für seinen Schüler gehalten hat. So schließt sich der Kreis von Besonnenheit und politischer Ambition…
Ich hoffe, das ist eine hilfreiche Handreichung zur Lektüre. /25 End
*macht sich diesen unversehens zum Feind. Sorry.
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Wie die Philosophie die Wissenschaftstheorie ausgehebelt hat – ein 🧵⏬️
Ich lese gerade das Buch ‚Wissenschaftsfreiheit und Moral‘ von @TimHenningJGU. Dabei – und beim Ansehen des Vortrags, der Ausgangspunkt des Buches ist, sind mir ein paar Dinge bezüglich der dort … /1
… vorausgesetzten philosophischen Erkenntnistheorie aufgefallen. Ausgegangen wird von einem Modell wissenschaftlicher Erkenntnis, in dem „evidence“ einen „belief“ rechtfertigt. Nanu, denke ich – so einfach funktioniert Wissenschaft dann doch nicht, oder? … /2
… Es stellt sich heraus, dass @TimHenningJGU sich auf einen gut etablierten, sich seit etwa zwei Jahrzehnten in der Wissenschaftsphilosophie durchsetzenden Trend bezieht, der vor allem in der internationalen angelsächsisch geprägten Philosophy of Science vorangetrieben wird. /3
As a logician, I would like to point you to the mistake in your argument:
„(2) brain processes are physical“ means: brain processes can be described physically. That holds for anything you can *measure* physically. However, only because there are processes that can be …
… described physically, this doesn‘t entail that any phenomenon related to the brain can be described as „process“ and / or physically.
If this is, as you claim, @aran_nayebi, „standard neuroscience“, your neuroscience is physicalistic and, thus, metaphysics. …
@aran_nayebi „Physical processes are Turing computable.“ Every physical process is Turing computable. Every physical process you can describe as such in the brain is Turing computable. However, as you describe physical processes, you presuppose a certain ontology, methodology, presumptions.
… streitet um die Bedeutung fast jedes Wortes in diesem Text (= alles ist interpretationsbedürftig). Welches Wort steht denn für XY?
Ich: Das hat mit problematischen Voraussetzungen dieser Forschung zu tun (gebe umfängliche Darlegung zur Übersetzung und Funktion von XY) … /2
… Antwort: hört sich immer noch an wie ‚meine Auslegung ist das, was da steht.
– – Das Märchen, philosophische Texte seien unbedingt auslegungsbedürftig, in ihrer Bedeutung fast vollständig umstritten, ist so wirkmächtig, dass man kaum dagegen ankommt. Meistens wird … /3
Dank dieses Berichts von @BiskyJens und Karsten Malowitz zur Benjamin Lecture von @lea_ypi kann ich besser verstehen, was mich an dieser Art, Theorie vorzutragen im Allgemeinen und der Vorlesung im Besonderen stört.
Ja, der Versuch, Marx mit der Aufklärung zu versöhnen, hat…/1
… Tradition. Das hat aber vor allem damit zu tun, dass es zwei Marx gibt: denjenigen vor und den nach 1931, als Landshut die frühen Manuskripte im Berliner SPD-Archiv entdeckt. Der Konflikt von Marx und Aufklärung war vor 1931 motiviert durch die schroffe Absetzung Marxens …/2
… von der – als idealistisch wahrgenommenen – Aufklärungsphilosophie einschließlich Hegels. Autoren wie Goldmann sahen das Problem, dass die Marx‘sche Kritik eine Situierung des Menschen voraussetzt, bevor sie diese in Frage stellt. Und sie sahen das Problem, dass ohne … /3
Alle Letztbegründungsfiguren der Philosophie lassen sich auf die gleiche logische Struktur zurückführen – von ‚Gott‘ über das ‚Ich‘, den ‚Ursprung‘, das ‚Unbewusste‘, bis zum ‚Absoluten‘ und dem ‚Nichts‘. Die logische Struktur nenne ich ‚reflexive Komplikation‘:
… : ‚… : …‘
Die Pointe von Reflexivität ist, dass man sie nicht nicht auslegen kann – oder: dass man sie auslegen muss. Auch ‚Struktur’, ‚reflexive Komplikation‘ oder ‚Reflexivität‘ sind Auslegungen, d. h. begriffliche Fassungen, die bestimmte Aspekte der Struktur betreffen.
Die Vielfalt der philosophischen Begriffe lässt sich entsprechend als Ergebnis von zwei Funktionen begreifen: (1) einer ständigen Neuauslegung der reflexiven Komplikation, (2) Kombinationen von bereits bestehenden Auslegungen, die dann ihrerseits ausgelegt werden.