Assad ist Geschichte, und Syrien ist... frei? Niemand sollte unterschätzen, welch enorme Konsequenzen die aktuellen Entwicklungen haben könnten -- und zwar innerhalb Syriens, regional und global. Ein THREAD 1/ 👇
Einfach ausgedrückt: Kein Mensch weiß, wie es jetzt weitergehen soll. Die neuen Machthaber in Damaskus waren bis vor kurzem aus westlicher Sicht Terroristen. Auf ihren Anführer, al-Jolani, ist (nach wie vor) ein Kopfgeld von $10 Millionen augesetzt. 2/
Tatsache ist: Ziel Jolanis und seiner Gruppe ist (immer noch) ein islamistischer Staat. Vielleicht nicht ganz so brutal wie beim IS, aber Frauen und Minderheiten hätten dort wenig zu sagen. Der Chefideologe der Gruppe hat kürzlich die Taliban zum „Vorbild“ ausgerufen. 3/
Dass Minderheiten in Syrien –- Alawiten, Christen, Drusen, Schiiten, Kurden -– Jolani nicht über den Weg trauen, ist keine Überraschung. Sie fürchten nicht nur einen Gottesstaat, sondern auch -- und ganz unmittelbar -- Vergeltung für die Gräueltaten von Assad und seinem Regime 4/
Für die Zukunft Syriens gibt es drei Szenarien: (1) eine Spaltung des Landes in 2-3 autonome Provinzen; (2) ein Wiederaufflammen des Bürgerkriegs; (3) ein Bürgerkrieg mit anschließender Spaltung. Kaum jemand traut Jolani und seine Partnern zu, das gesamte Land zu befrieden. 5/
Auch regional hat Assads Sturz enorme Konsequenzen. Syrien war neben der Hisbollah das wichtigste Glied in der iranischen „Achse des Widerstands". Durch Assad konnte Teheran seine Macht im gesamten Nahen Osten projizieren. Sein Sturz ist für den Iran ein herber Verlust. 6/
Die Türkei dagegen könnte ein Gewinner sein. Die Islamisten, die jetzt Damaskus stürmen, gehörten (größtenteils) zu Ankaras Verbündeten. Doch inwieweit hat Erdogan sie wirklich unter Kontrolle? Und werden seine Erzfeinde, die Kurden, durch die Situation schwächer oder stärker? 7/
In Israel sieht man die Situation mit gemischten Gefühlen. Der Rückzug des Iran und die Schwächung der Hisbollah sind aus isr. Sicht positiv. Doch gleichzeitig ist klar: Ein von Islamisten regiertes Syrien direkt vor der eigenen Haustür ist für Israel keine gute Nachricht.8/
Für die Golfmonarchien -- Saudi, Katar und VAE -- ergibt sich eine Chance... und Verpflichtung. Jahrelang haben sie den Bürgerkrieg in Syrien mit Geld und Waffen befeuert. Zuletzt wollten sie Assad wieder rehabilitieren. Werden sie diesmal eine konstruktive Rolle spielen? 9/
Auch über die Region hinaus könnte Assads Sturz massive Konsequenzen haben. Assad war ein wichtiger Verbündeter Russlands, und sein Fall ist für Putin eine Riesenpleite. Dabei geht es nicht nur - oder in erster Linie - um die Marinebasis in Tartus, die jetzt bedroht ist.. 10/
Für Putin steht viel mehr auf dem Spiel: sein Einfluss im Nahen Osten, der sich v.a. an Assad festmachte; das Mantra, wonach Stabilität stets besser ist als Freiheit; und nicht zuletzt der Mythos der Unbesiegbarkeit. Ist Russland vielleicht doch nicht so stark wie alle denken?11/
Eine weitere mögliche Konsequenz: Migration. Kommt es zu einer Beruhigung, sodass Flüchtlinge nach Syrien zurückkehren können? Oder flammt der Bürgerkrieg wieder auf und noch mehr Menschen versuchen, aus Syrien zu fliehen? Ich befürchte: Letzteres ist wahrscheinlicher. 12/
Hermit verbunden: die Bedrohung durch den Terrorismus. Dschihadisten auf der ganzen Welt sind vom Sieg der Islamisten wie elektrisiert. Al-Qaida hat Jolani bereits gratuliert. Wird Syrien, trotz gegenteiliger Beteurungen, wieder zum Rückzugsort für transnationale Terroristen? 13/
Wenn das Land erneut im Chaos versinken sollte, hätte sogar der IS wieder eine Chance. Die Lehren aus Afghanistan, dem Irak, Libyen und Syrien selbst sind eindeutig: Bürgerkriege schaffen nicht nur humanitäre Katastrophen, sondern auch den Nährboden für Terrornetzwerke. 14/
Kurzum: Die Befreiung Syriens von Assad ist einerseits natürlich positiv. Der Mann und sein Regime haben Hunderttausende von Menschen auf dem Gewissen -- weit mehr als der IS und alle anderen „Rebellen" zusammen. Assads Versprechen von „Stabilität" war stets eine Lüge. Doch.. 15/
Doch dieser Moment birgt auch enorme Risiken. Bloß weil sie Assad bekämpft haben, sind die neuen Machthaber keine liberalen Demokraten. Und niemand weiß, ob es ihnen gelingen kann, das Land unter ihre Kontrolle zu bringen und einen erneuten Bürgerkrieg zu vermeiden. 16/
Europa hat in Syrien selbst relativ wenig Einfluss. Aber es kann zumindest versuchen, die Nachbarschaft zu stabilisieren und konstruktiv auf Länder einzuwirken, die in Syrien Einfluss haben, insbesondere die Türkei und die Golfmonarchien. 17/
Niemand erwartet von Europa eine massive Intervention. Das wäre auch gar nicht hilfreich. Aber mehr als nur Zuschauer sollten wir schon sein. Denn das, was da aktuell in Syrien passiert, betrifft früher oder später wahrscheinlich auch uns. 18/
Mehr zu Assad, den islamistischen Rebellen und zur Politik des Westens im Syrienkonflikt gibt es u.a. in meinem Buch *Die neue Welt(un)ordnung* 👇 amzn.eu/d/8RgkdSu
PS: Die Befreiung des Foltergefängnisses von Sednaja illustriert das Dilemma: Hier haben sich unter Assad unbeschreibliche Gräuel zugetragen, ein Symbol seiner Schreckensherrschaft. Gleichzeitig... 20/ spiegel.de/ausland/syrien…
Gleichzeitig sind viele der 5000 Freigelassenen Dschihadisten, die an ihre Heimatorte zurückkehren und (verständlicherweise?) Vergeltung fordern. (Assad selbst hat mit solchen Freilassungen vor 20 Jahren den Bürgerkrieg im Irak befeuert.)21/ lrb.co.uk/the-paper/v36/…
Was sich heute in Syrien abspielt, ist deshalb sowohl Ende als auch Anfang. Es ist das Ende einer zynischen und brutalen Schreckensherrschaft, aber möglicherweise eben auch Beginn einer neuen Periode von Instabilität und Konflikt. Ich hoffe sehr, dass ich falsch liege. 22/
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Ein Ende des Westens? Trumps zweite Amtszeit wird anders sein als die erste. Da war ich mir bereits vor fünf Jahren sicher, als ich mein Buch zu Trumps Sicherheitspolitik und Terrorbekämpfung schrieb. Der Grund? 1/ 👇
2016 kam auch für Trump überraschend. Er hatte außer Jared, Ivanka, Bannon und ein paar alten Freunden kein Team. Viele wichtige Positionen gingen deshalb an trad. Republikaner, die Trump ggü. skeptisch waren und in vielen Bereichen eine recht pragmatische Politik betrieben. 2/
Doch diesmal fiel der Sieg noch größer aus als letztes Mal. Die Republikaner sind zu fast 100% auf Trumps Linie. Beide Kammern des Kongresses sind in republikanischer Hand. Und seit etwa 2 Jahren bereitet man sich programmatisch und personell auf eine zweite Trump-Amtszeit vor.3/
Ein Jahr nach der Terroroffensive vom 7. Oktober: Europa steht vor einer neuen Welle des dschihadistischen Terrors. Ich habe *alle Zahlen und Daten* zusammengetragen und ausgewertet. Dabei komme ich zu 6 Erkenntnissen. 👇🧵
1) Die Zahl der dschihadistischen Anschläge und Anschlagsplanungen ist in den letzten 12 Monaten stark angestiegen. Im Jahr 2022 zählte Europol in ganz Europa nur 2 durchgeführte und 4 versuchte Anschläge. Verglichen damit hat sich das Volumen mehr als *verfünffacht*.
2) Die gute Nachricht: Mindestens 2 von 3 geplanten Anschlägen werden verhindert. Elf durchgeführten Anschlägen stehen 25 Anschlagsplanungen gegenüber, die Sicherheitsbehörden stoppen konnten. Es stimmt also gat nicht, dass „diese Art von Terrorismus“ nicht zu verhindern sei.
Ich möchte lösen. In dem Schnipsel vom Frühherbst 2015 antworte ich vorsichtig, aber sachgerecht auf die Frage, ob es *Belege* dafür gibt, dass der IS syrische und irakische Unterstützer als Flüchtlinge getarnt nach Europa schmuggle. Die korrekte Antwort war (damals) nein. 1/
Neun Jahre später (2. Schnipsel) ist die Situation so: (1) Eine Mehrheit der mutmaßlichen Attentäter sind Flüchtlinge oder Asylbewerber. Fast alle haben sich *nach* Ankunft in Deutschland radikalisiert. Kaum jemand ist als Terrorist gekommen oder gar eingeschmuggelt worden. 2/
(2) Davon gibt es jedoch eine Ausnahme, und zwar den IS-Ableger ISPK, der -- anders als der IS 2015 -- seit 2022 sehr systematisch und aggressiv versucht, Terroristen über Flüchtlingsrouten einzuschmuggeln. Davor warne ich bereits seit über einem Jahr. 3/
Der Anschlagsversuch in München heute illustriert eine Sicherheitslücke, die ich seit Jahren beklage. 1/
Wir haben in Europa (mehr oder weniger) offene Grenzen, aber es gibt immer noch keine europäische Gefährderdatei, auf die alle europ. Polizeien zurückgreifen könnten. Seit sieben Jahren weise ich darauf immer wieder hin. Geändert hat sich: nichts. 👇 2/
Die Konsequenz: Ein österreichischer Gefährder oder Terrorverdächtiger, der im Salzburger Land -- eine Stunde Autofahrt von München -- entfernt wohnt, ist den bayerischen Behörden i.d.R. völlig unbekannt. Wie kann das sein? 3/
Ich beobachte das seit Jahren: Nach Anschlägen formulieren Politiker steile Forderungen und wecken riesige Erwartungen, die schnell enttäuscht werden und das Vertrauen in die Politik letztlich weiter untergraben. 1/
Was passieren sollte: Alle demokratischen Politiker halten sich rhetorisch zurück, stecken Köpfe zusammen und wagen zusammen den großen Wurf. 2/
Nicht weniger als eine eine Art *Zeitenwende* in den Bereichen (1) Terrorismusbekämpfung, (2) Extremismusbekämpfung, (3) Integration und (4) Migration. 3/
Taylor Swift: Der offenbar vereitelte Anschlagsplan auf die Konzerte in Wien ist Teil einer weiteren Entwicklung, die ganz Europa betrifft. 1/
Von der Öffentlichkeit nahezu unbemerkt: Dschihadistische Anschläge und Anschlagspläne haben in den letzten zehn Monaten dramatisch zugenommen. 👇 2/ prneumann.substack.com/p/der-unheimli…
Mehr noch: Fast zwei Drittel (!!) der Tatverdächtigen waren Teenager -- wie auch jetzt in Wien, zum Teil aber noch viel jünger. 👇 3/ prneumann.substack.com/p/der-unheimli…