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Feb 9 23 tweets 5 min read Read on X
1/Im jüngsten Spiegel publiziert Heinrich August Winkler einen Essay unter der Überschrift „Deutsche Asyllegende“. Es sei seine Geschichtslegende, dass es ein subjektives individuelles Grundrecht auf politisches Asyl in Deutschland gebe, womit eine Konsequenz aus dem National- Image
2/sozialismus gezogen worden sei. In einem ungewöhnlich, fast wütenden Tonfall erklärt er, was die Initiatoren des Grundgesetzes eigentlich dachten und warum sie das taten und jenes unterließen. Der Höhepunkt ist dieser Satz: „Hätte er (Carlo Schmid) vorhergesehen, welch Folge
3/diese Streichung haben würde, hätte er diesen Vorschlag wohl nicht gemacht.“ Unhistorischer geht es für einen Historiker eigentlich nicht, jedenfalls nicht für einen, für den Quellen eine Vetomacht darstellen. Dass er dann ein Vokabular benutzt, das in keinem AfD-Papier fehlt,
4/andere als die eigene Position als „doktrinär“ abstempelt (vor allem die Grünen natürlich!), den Müttern und Vätern rundherum abspricht, dass sie ein „Recht auf Asyl in einem bestimmten Land“ anerkennten (wäre ihnen „niemals in den Sinn gekommen“ – HAW weiß wirklich, was sich
5/in jedem Kopf abspielt!), dass es „unhistorisch und unpolitisch“ sei, wenn „heute immer wieder das Jahr 1933 oder der „‘Antifaschismus‘“ beschwört würden und der AfD „Wind aus den Segeln“ genommen werden würde durch eine andere „Asylpolitik“.
Ich kenne HAW seit 1991 persönlich.
6/Ich habe an seinem Lehrstuhl als wiss. Hilfskraft 1991 bis 1995 gearbeitet, ohne für ihn etwas tun zu müssen. Er hatte damals einfach die lautstärksten Kritiker der leninistischen DDR-Geschichtswissenschaft an seinem Lehrstuhl, als er 1991 nach Berlin an die HU kam, versammelt, Image
7/um seinen Lehrstuhl als Bollwerk der Erneuerung und gegen die Altkommunisten zu etablieren. Da waren dann Stefan Wolle, Armin Mitter, Rainer Eckert und eben ich, allesamt im Vorstand des Unabhängigen Historiker-Verbandes, bei ihm tätig. Nach meinem Ausscheiden hatte ich zu
8/Winkler praktisch keinen Kontakt mehr. Nach dem Erscheinen meiner Ulbricht-Biographie schrieb er mir einen Brief, nochmals nach Band 2 ebenso: beide Briefe gehören zu den größten Anerkennungen, die ich für „meinen Ulbricht“ erhielt – ich hatte HAW immer als Historiker verehrt,
9/was sich auch in vielen Fußnoten meiner voluminösen Biographie zeigte. Ich hatte vor allem im ersten Band immer wieder Bezug auf seine dreibändige Geschichte der Arbeiterbewegung 1918 bis 1933 genommen: Diese Arbeit ist m.E. Winklers wichtigste wissenschaftliche Leistung.
Nun
10/zu dem Spiegel-Essay zurück:
1. Er vermischt Flüchtlings- und Asylpolitik, so wie das die meisten Kritiker*innen tun, um damit zu suggerieren wollen, beides sei eines. Doch lassen wir diesen üblichen Aspekt Außen vor, obwohl es für Winkler schon erstaunlich ist.
2. 2023/24
11/hat Winkler in mehreren Beiträgen und Interviews betont, dass der politische Westen von Innen wie von Außen so bedroht sei, wie noch nie seit 1945. Dazu trügen extremistische Parteien wie die AfD bei, die eben nicht nur von den Fehlern der traditionellen Parteien profitiere,
12/sondern auf einer völkischen, nationalistischen, rassistischen Basis siedle. In dem Spiegel-Essay ist davon nichts zu lesen, einzig die „Merkel-CDU“, Teile der SPD (Winklers Partei), die Grünen und die Linkspartei seien durch eine völlige verfehlte Asylpolitik Schuld am Auf-
13/stieg der AfD. (Ich hatte Mitte der 1990er Jahre in einem großen Aufsatz von HAW lernen können, wie sich die Einstellung der bundesdeutschen Gesellschaft zum Nationalsozialismus entwickelt hatte und wie verfestigt in einem beträchtlichen Teil ein positiver Bezug blieb. Davon
14/ist im Spiegel nichts mehr zu lesen – die AfD ist das Produkt der anderen.)
3. Am 28.9.2015 schrieb HAW in der FAZ unter der Überschrift: „Das Undenkbare denken“: „Das Asylrecht ist ein vorstaatliches Menschenrecht. Nur in wenigen Staaten ist es wie in Deutschland ein von der
15/Verfassung gewährleistetes, individuelles Grundrecht. In dem Satz des jetzigen Artikel 16a ‚Politisch Verfolgte genießen Asylrecht‘ schlägt sich die Erfahrung der deutschen Emigration in den Jahren der nationalsozialistischen Diktatur nieder.“ Seine weithin gefeierte vier-
16/bändige „Geschichte des Westens“ erklärt die Durchsetzung der Menschenrechte zum Grundprinzip und zum Erfolgsgarant des „Projektes Westens“. Im abschließenden vierten Band schrieb er 2015 zudem, die „westlichen Demokratien“ müssen „eine Erleichterung der legalen Einwanderung“ Image
17/für „Auswanderungswillige aus der Dritten Welt“ durchsetzen (S. 499). Zwei Jahre später legte er noch einen Band nach: „Zerbricht der Westen?“ Ausführlich befasst er sich mit dem „Zufluchtsort Europa“. Das Kapitel beginnt mit dem Satz: „Alle Geschichte ist immer auch eine
18/Geschichte von Migrationen.“ Sodann zeichnet er die Entstehung von Artikel 16 GG nach. Das Recht auf individuelles Asyl sei ins GG gekommen, weil der Verfassungsgesetzgeber „jenes Asyl vor Augen hatte, das andere Staaten nach 1933 Deutschen, darunter auch späteren Mitgliedern
19/des Parlamentarischen Rates, gewährt hatte, die aus rassischen, politischen und weltanschaulichen Gründen im nationalsozialistischen Deutschland staatlicher Verfolgung oder zumindest massiver Diskriminierung ausgesetzt waren.“ Das sei immer auch nötig gewesen. HAW zeichnet die
20/Debatten nach und zeigt, dass es nie eine parlamentarische Mehrheit für eine Abschaffung des individuellen Rechts auf Asyl gab. Angela Merkels Politik 2015/16 bringt HAW so auf den Punkt: „Bestimmend waren Gründe der Menschlichkeit.“ (S. 118)
Damit bringt HAW etwas zum Aus-
21/druck, was in seinem Wutanfall im aktuellen Spiegel nicht mit einer Silbe zum Ausdruck kommt: Menschlichkeit! Und das ist sehr, sehr enttäuschend! Ebenso übrigens die fehlende Bemerkung,vieles von dem jetzt harsch Kritisierten in dem Spiegel-Essay, was in AfD- und Werte-Union-
22/Kreisen mit üblem Applaus die Runde macht, haben Sie bis vor kurzem selbst noch so und in früheren als den hier zitierten Äußerungen noch viel lauter selbst so gesehen. Er müsste sich doch als einer der wirkmächtigsten Intellektuellen unseres Landes vorstellen können, dass er
23/vielleicht mit seinen früheren Äußerungen dazu beitrug, jene Politik auszuformulieren, die er jetzt so unlauter und undifferenziert, voller Wut kritisiert? Ich finde das intellektuell nicht redlich. Image

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