Titiat Scriptor Profile picture
Autor und Sozialwissenschaftler. Arbeitet mit Menschen. Schreibt hier, was er sonst noch für wichtig hält.

Sep 1, 2021, 14 tweets

Gene scheinen als Grundlage für unsere Persönlichkeit noch immer recht umstritten zu sein. Jedenfalls spüre ich hier bei wenig anderen Themen mehr Gegenwind. Anlass genug für etwas Aufklärungsarbeit. Folgendes können Sie bei der nächsten Dinnerparty mit Zuversicht verkünden (1)

(2) Basis ist ein schönes kleines Paper mit dem Titel "Top 10 Replicated Findings From Behavioral Genetics". Die Studie stellt ein paar große Ideen vor, die wieder und wieder erfolgreich getestet und repliziert worden sind. Das kommt einem fachlichen Konsens schon ziemlich nahe.

(3) 1. Alle psychologischen Merkmale des Menschen sind genetisch mitbestimmt, also erblich. Diese Einsicht wird manchmal auch (etwas hochtrabend) als "erstes Gesetz der Verhaltensgenetik" bezeichnet. Ausnahmen sind den Autoren nicht bekannt (ist, soweit ich weiß, immer noch so).

(4) 2. Kein psychologisches Merkmal ist ausschließlich durch Gene bestimmt. Umwelteinflüsse spielen immer eine Rolle -- mal mehr, mal weniger.

(5) 3. Erblichkeit beruht auf vielen Genen, die zusammengenommen eine bestimmte Merkmalsausprägung bewirken. Dieser Umstand wird auch "Polygenie" genannt.

(6) 4. Ein Zusammenhang zwischen psychologischen Merkmalen (z.B. die Korrelation von Kreativität und psychischer Gesundheit) ist ebenfalls teilweise genetisch bedingt, nicht nur durch die Umwelt.

(7) 5. Intelligenz ist teilweise erblich und der erbliche Anteil steigt mit zunehmendem Alter. Im Säuglingsalter beträgt die Erblichkeit etwa 20%. Sie steigt dann auf ca. 60% bei Erwachsenen.

(8) 6. Bleiben Merkmale im Lauf des Lebens stabil, liegt das eher am kontinuierlichen Einfluss derselben Gene. Ändern sie sich, liegt es eher an der Umwelt.

(9) 7. Auch Faktoren, die man eigentlich der Umwelt zurechnen würde (z.B. der Erziehungsstil der Eltern), sind in erheblichem Maß genetisch mitbestimmt. D.h. der Erziehungsstil der Eltern reflektiert unter anderem die (teils erblichen) Merkmale des Kindes.

(10) 8. Korrelationen zwischen Umweltfaktoren und psychologischen Merkmalen werden teilweise durch dieselben genetischen Faktoren bewirkt. Elterlicher Erziehungsstil und Verhalten des Kindes können z.B. durch dieselben (vererbten) Gene mitgeprägt werden.

(11) 9. Die Ähnlichkeit von Geschwistern wird viel mehr genetisch bestimmt als durch eine gemeinsame Umgebung bewirkt. Das bedeutet nicht, dass Umwelt (z.B. Familie) wenig Einfluss hat, sondern dass jedes Kind (auch in derselben Familie) tendenziell eine andere Umwelt vorfindet.

(12) 10. Viele häufige psychische Störungen sind aus Sicht der Genetik nicht qualitativ anders als andere psychologische Merkmale, sondern nur extremere Ausprägungen derselben Gene und Umweltfaktoren als bei "normalem" Verhalten.

(13) Das war's. Es würde mich wirklich interessieren, ob Sie da jetzt einfach nicken und sagen "Klar, wusste ich" oder "Klingt logisch". Oder waren da jetzt auch ganz neue Ideen dabei, die Sie teilweise aus dem Bauch heraus vielleicht unplausibel finden? Gerne Kommentare dazu.

Share this Scrolly Tale with your friends.

A Scrolly Tale is a new way to read Twitter threads with a more visually immersive experience.
Discover more beautiful Scrolly Tales like this.

Keep scrolling