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Historiker mit Schwerpunkt auf sowjetischer und deutscher Zeitgeschichte sowie Architekturgeschichte. Forsche (noch) zu „Kyjiw im Krieg. 1937-1947“

May 6, 13 tweets

Politikwissenschaftler, die sich als "Realisten" sehen, betonen häufig, eine Position verstehen zu wollen, heiße noch nicht, Verständnis zu haben. #Mearsheimer bekennt sich gegenüber der @NZZ nun endlich dazu, ein Putinist zu sein. Einige Anmerkungen
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Eingangs nimmt Mearsheimer noch einmal auf die Pose des "Realisten" ein: Wer Putin als guten Strategen bezeichne, billige damit nicht zwangsläufig sein Handeln.
Im weiteren Verlauf des Interviews - das Zitat in der Überschrift macht dies bereits deutlich - ist von Distanz
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jedoch nichts mehr zu spüren. Da erklärt er, der Angriff von 2022 sei ein "klassischer Präventivkrieg", den die Ukraine und die USA provoziert hätten - er suggeriert also, die Invasion Russlands sei gerechtfertigt.
Mehr noch: Mearsheimer setzt - wie es für Putinisten typisch
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ist - die Kuba-Krise (als die Sowjets dort tatsächlich Raketen stationiert wurden) mit einer bloß hypothetischen Stationierung von US-Truppen in der Ukraine gleich. Er unterschlägt dabei, dass vor 2014 nicht einmal in Polen und Rumänien dauerhafte US-Stationierungen gab, und
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diese bis heute keine Angriffsfähigkeit darstellen. Unter den Tisch fällt wie üblich auch der Fakt, dass die NATO-Staaten Frankreich und Deutschland vor 2014 noch große Rüstungsverträge mit Russland abgeschlossen haben - nicht mit der Ukraine. Von welcher "Bedrohung" redet er?
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Und dann kommt die Passage, in der Mearsheimer von seinem Napoleonkomplex überwältigt wird, sich in Putin hineinversetzt und den Angriffskrieg explizit gutheißt. Bezeichnend auch, dass er keinen Gedanken daran verschwendet, wie Russland eigentlich so groß geworden ist: Hat er
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übersehen, dass auch in Moskau bzw. Petersburg einige Invasionen konzipiert worden sind, die letzten 1939/40 gegen Polen, das Baltikum und Finnland?
Besonders apart ist Mearsheimers Cherry picking, wenn es um Putins Worte geht. Da sagt er kurz hintereinander zuerst
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"Wir hätten Putin ernst nehmen sollen" (als er drohte, er werde in die Ukraine einmarschieren, wenn sie in die NATO aufgenommen werden könnte) und leugnet dann kurz danach, was Putin 2021 geschrieben und am Tag des Überfalls 2022 im TV gesagt hat: Die Ukraine sei kein Staat.
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Plötzlich will Mearsheimer Putin also nicht mehr "ernst nehmen". Stattdessen betreibt er eine atemberaubende Täter-Opfer-Umkehr: Weil sich die Ukraine nach und *aufgrund* der Invasion von 2014 gegen einen neuerlichen Einmarsch gewappnet hat, habe man sie Russland "provoziert".
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Interessant ist in diesem Zusammenhang, dass er nun sagt, die Ukraine seit bei "Ausbruch der Krise" von 2014 ja "noch nicht nennenswert in die Nato integriert" gewesen, rechtfertigte damals aber mit diesem Argument die damalige Invasion.

10/ ipg-journal.de/kommentar/arti…

Mearsheimer setzt seine Täter-Opfer-Umkehr fort, indem er fortwährend unterstellt, die angegriffene Ukraine sei eine Bedrohung, nicht der Aggressor Russland (dessen Begriffe er übernimmt).
Erstaunlich, wie jemand mit so gestörter Wahrnehmung als "Realist" gelten kann.
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Am lustigsten ist, dass Mearsheimer seine Thesen dann selbst ad absurdum führt, ohne es aber zu bemerken: Wenn die USA nicht RU, sondern China als größte Bedrohung bezeichnen - und das war schon 2014 der Fall ("pivot to Asia") - bekunden sie vernehmbar: RU ist nebensächlich.
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Abschließend lässt Mearsheimer die Katze aus dem Sack: Er bekundet selbst, nicht RU muss sich "bedroht" fühlen, sondern dessen kleinere Nachbarn, die es "vernichten" könne, auch mit Atomwaffen und ohne dass die USA eingreifen würden. Deren Gegenmaßnahmen: "Provokationen".
13/13

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