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Diese Sehnsucht danach, dass alles wieder so wird wie vorher ist zwar nachvollziehbar aber ich verstehe nicht, wie man sich die Realität so verdrehen kann, um zu glauben, dass dies derzeit möglich wäre.
Es gibt weder einen Impfstoff noch ein Heilmittel. Die Infektion mit dem Virus kann nach wie vor zu schweren Verläufen und zum Tod führen. Es gibt Risikogruppen aber wen es letztlich erwischt ist unklar.
Zudem leiden viele Menschen mit schweren Verläufen unter Langzeitschäden.
Masken, Hygiene und Abstand sind wichtig aber es sind Hilfsmittel und keine Heilung.
Das heißt, selbst wenn es zu weiteren Lockerungen kommt, würde ich versuchen, weiterhin so sozial distanziert wie möglich zu leben.
Mein Interesse an Einkäufen in überfüllten Stadtzentren, meine Lust auf Konzerte und Restaurantbesuche ist sehr reduziert.
Es wird sicher einige geben, die naiv unbesorgt sind, aber wer glaubt, die Kaufkraft käme bei diesem russischen Roulette im gleichen Maß zurück, muss wirklich die Weitsicht eines Maulwurfs haben.
Wenn ich also eine Person des öffentlichen Lebens wäre und gesellschaftlich Relevantes in einem offenen Brief fordern würde, dann läge mein Fokus auf ganz anderen Dingen. Zum Beispiel auf einer gesamten gesellschaftlichen Veränderung.
Ich würde fordern, dass wir unsere Gesundheits- und Pflegeversorgung neu denken müssen. Wie kann es sein, dass die Pflege so schlecht bezahlt wird? Wie kann es sein, dass Ärzt*innen enorm lange Schichten arbeiten müssen, die ihnen selbst und den Patient*innen schaden?
Ich würde fordern, dass wir massiv in medizinische Forschung investieren? Warum will man in Deutschland weiterhin Autos verkaufen aber niemand pumpt Geld in die Forschung, Entwicklung und Herstellung von Medikamenten oder medizinischen Material?
Bereits vor Corona gab es bei manchen Medikamenten eine Knappheit und meiner Meinung nach sollte es durchaus möglich sein, bessere Lösung z.B.gegen HIV und gegen Malaria zu finden.
Warum gehen meine Steuergelder in Autoprämien und nicht in (medizinische) Forschungszentren?
Die nächste Baustelle, die ich aufgreifen würde, ist die Bildung. Spätestens die Krise offenbart, dass wir an diversen Stellen blinde Flecken haben.
Das geht los bei der Ausstattung, wo Dinge wie Seife, warmes Wasser und ausreichend Waschräume fehlen.
Das geht weiter bei der digitalen Ausstattung. Nicht alles Schulen haben Smartboards und schon gar nicht ausreichend Laptops, um alle bedürftigen Schüler*innen in der Krise damit zu versorgen.
Abgesehen davon gibt es so gut wie keine Schule, die vor der Krise eine digitale Lernplattform hatte. In Hamburg weiß ich, dass die Behörde zwar Vorgaben macht aber die Schulen mit der Umsetzung komplett alleine lässt.
Ohne das Engagement von Schulleiter*innen, Lehrer*innen und Eltern sieht es mau aus. Das was in den beiden Schulen die ich kennen in den letzten Monaten geleistet wurde ist beeindruckend.
Ich würde fordern, dass das pädagogisches Personal deutlich mehr im Umgang mit digitalen Medien geschult wird.
Digitale Pädagogik muss massiver Bestandteil der Ausbildung sein. Zum einen um die technischen Möglichkeiten auch wirklich nutzen zu können aber auch um die Kinder in ihren digitalen Welten zu verstehen.
Und dann würde ich fordern, dass wir uns endlich von diesem neoliberalen Quatsch verabschieden.
Wir sehen in der Krise, wer der Motor dieser Gesellschaft ist. Ohne medizinisches (Pflege)Personal würden unsere Lungen zu Hause vor sich hin kollabieren. Ohne Supermarktmitarbeiter*innen und Lkw-Fahrer*innen hätten wir nichts zu essen und zum Po abwischen.
Der Neoliberalismus steigt für Geld über Leichen und gibt nichts zurück. Er schiebt alles auf die Verantwortung des einzelnen, fordert aber jammernd um Geld, wenn er sich verzockt hat.
Ich würde fordern, dass wir unser gesellschaftliches Konzept noch einmal überdenken. Eine soziale Marktwirtschaft könnte ein Ausgangspunkt sein.
Ebenfalls fordern würde ich, dass Sorgearbeit neu bewertet wird. Die Krise zeigt ganz deutlich, dass Erziehungsarbeit oder die Pflege von Angehörigen eine Arbeit ist.
Schon vor Corona fand ich es empörend, dass es nicht einmal einen vernünftigen Rentenausgleich gibt für die vielen Frauen (und paar Männer), die sich um Kinder und pflegebedürftige kümmern und dafür bei bezahlter Arbeit kürzer treten (müssen).
Ich würde fordern, dass diese Arbeit endlich als Arbeit anerkannt und entsprechend bezahlt und gesichert wird.
Was ich nicht fordern würde, wäre ein gefährliches und potentiell Tödliches zurück zum alten Status Quo. Diese Forderung hat nichts Visionäres, hat nichts Kluges, hat nichts Geistreiches. Diese Forderung ist eine Bankrotterklärung.
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