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Marga Krav und Yelen Simc (lies: in der Reihenfolge) besprechen den Spielfilm _Deckname Jenny_, der noch bis zum 9.6.20 online bei freiem Eintritt hier anrufbar ist: jenny.in-berlin.de.
Wir essen gerade Bratwurst im Heimkino. Ist das verwerflich?

Ich bin jedenfalls nicht in der Lage, in jeder Situation und in allen Dingen die Klassenfrage zu stellen. Dieser Einstieg in den Film gefällt mir auch wenig. Er macht Gegensätze auf, wo noch keine politischen
Antagonismen verhandelbar sind.

Einverstanden. Das ist auch die Stärke des Films, die Diskussion um die verpflichtende Alltagspolitik etwas zu lockern.

Wenn du mit verpflichtender Alltagspolitik die Verpflichtung zum Handeln gegen Unterdrückung und Ausbeutung meinst, dann
bestimmt. Ich finde aber, dass der Film seine interessanten Schwächen hat.
Zum Beispiel das Kokettieren mit der dekonstruierten Repräsentation. Die geht ungefähr so, wie die Novelle Vague vorgeführt hat. Zeige die Produktionsmittel und die Produktionssubtexte in der Produktion, dem Film also, selbst. Der Film zeigt zwar etwas, das ist aber
nicht wirklich, es repräsentiert nichts, keine politische Bewegung, keine realen Verhältnisse, vielleicht dokumentiert er, er repräsentiert keine gegebene Wirklichkeit indem er sie wiederholt, er stellt einen möglichen Blick auf sie her. Und das kann Film dann
wiederum selbst zeigen und bereden, fixiert und abgeschlossen wie ein Text, aber er kann das reflektieren.

Die Szene, in der Jenny beginnt, die "Seeräuber Jenny" zu singen und Theo Urheberrechtsprobleme, ausgerechnet mit Bezug zu Brecht, anmahnt und dann beide in die Kamera
beziehungsweise die Zuschauerin ansehen.

Ja, ich finde, diese Verfremdung gelingt nicht, ist nur Anleihe, oder stellt eher eine unbewusst ins Drehbuch reingeschriebene Nähe zu Crowd her, ein Händeschüttler von der Bühne runter, mit denen, die den Film unterstützten und dann
als "ihre" Repräsentation oder als Repräsentation ihrer Tendenz ansehen.
Das ist vielleicht ein wenig hart geurteilt. Womit wir bei der Unterscheidung und dem Nexus, der Verbindung von politischer Repräsentation und Repräsentation der Realität wären. Ich sehe die Schwächen vom Film als Ansätze, über die wir reden müssen. Gut ist es, vom Film
weg zu reden, ihn nicht zum fixen Bezug zu nehmen, so als ginge es um ihn. Das machen ja Jurys und Wettbewerbe, vor denen der Film auch nicht sicher ist.

Er ist ja im Umfeld von einer bestimmtem Spezialisierung entstanden.

Filmproduzentinnen.

Und im Bereich einer Projektion.
Projektion, die der Film aber mitdenkt.

Mit Projektion meine ich die Inszenesetzung, um nicht Inszenierung zu sagen. Die Inszenesetzung eines militanten, aber bereits jung gereiften politischen Engangements. Es ist kein Engangement im Orkan der täglichen Gewalt des Jobs und
des Überlebens im symbolisch kapitalistschen Konglomerat, also hier Berlin, Potsdam und Umland.

Ich meine, das weiß der Film quasi, indem er das zeigt.

Also bildet er doch etwas ab, eine dann eben doch in Anführungszeichen Szene, das bedeutet eine relativ schlicht
soziologisch überschaubare Dynamik aus Personen und ihrem Verhalten.

Ich glaube, hier überschätzen wir wieder die Repräsentation. Der Berliner Raum ist sicher keine kapitalistische Hochburg, er ist die amtliche Hochburg der offiziellen Politik und der offiziellen Macht,
aber das wars auch schon. Große Profite werden woanders in Deutschland gemacht. Und Berlin ist das überbeachtete und überschätzte urbane oder suburbane Spielfeld für politische Auseinandersetzung.
Also ein konstruiertes Gebiet?

Nein, ich glaube die "Szene" richtet sich zu sehr an einem urbanen Raum aus, der mit Mythen beklebt ist. So dieses Seyfreid-Berlin, das Anarcho-Berlin.
Wenn diese Projektion, so medienfreudianisch betrachtet - also mit der Psychoanalyse Freuds und so weiter und bezogen auf die Frage, wer denn was wie zeige - das Sichtbarmachen vom Entwerfen von Wünschen oder zu Verdrängendem ist, könnte hier mehr auftreten, als intendiert ist,
mehr als von den Filmemacherinnen gedacht wurde.

Genau. Der berüchtigte semantische Überschuss - bei jedem Medium und seiner Inhalte ist immer da. Der muss nur gemacht werden, der liegt nicht vor, der ist latent. Ich finde, die Konflikte um die neue und alte Generation
mit dieser Klischeelinie anarchisch kalkulierter Wut, die Störung, die zeigen also mehr, als das Gezeigte selber behandelt.
Klingt paradox, aber zum Beispiel die Verortung im Metropolenraum der Staatsmacht, dort wo der Film spielt, der Blick auf die Drehorte und die Unterstützer zeigt das, folgt doch sehr einfach dem im Film immer wiederholten Anschluss an Stadtguerilla und Untergrund.
Gut, da werden Topics gesetzt. Etwa die alten Kassiber der Bewegung 2. Juni, die im Cut dann den Liebesbriefen zwischen den Mitgliedern der Gruppe um Jenny gleichgesetzt werden. Liebe und Kampf sind dann dasselbe, in der Assoziationskette geht das bis
zur Gleichung von Kampf und Solidarität. Die Assoziationen sind multidimensional angelegt.
Sind aber auch eingeengt. Kommunistische Kader kommen nicht vor, kein Wort über Mao aus dieser Zeit. Warum? Es gibt wohl kein ausgemachtes Zentrum der anzugreifenden Macht mehr, aber die Gruppe kämpft dort, wo sie in die Provinz geworfen wurde. Diese Analyse ist beliebt, weil
mit und nach 68 die Fabrik angeblich ausgedient hatte, nur noch zum Sozio-Kulturzentrum taugte.

Ja, die angebliche Deindustrialisierung und die zweite Verunsichtbarmachung der Arbeiter.
Trotzdem zeigt der Film auch noch eine Ahnung von Infrastruktur. Das Sprengen von so einer Infrastrutur ist aber bloß noch Geste.

Vermutlich wars das in der Krise der Endsechziger auch - Geste. Symbolischer Akt. Auch wenn Rote Zellen ihre Sabotage-Erfolge hatten.
Das meine ich auch. Mal zurück. Wenn ich jetzt mal vom semantischen Überschuss, der angeblich vom Medium ausgeht, überspitzt: es ist mehr zu sehen als gezeigt wird, weggehe, wenn das offene Thema des Films, die Selbstkonstitution, die aussieht wie ein
Coming of Age mal ernst genommen, kommt für mich zum Vorschein, wie die Schwäche der Kämpfe mit zwei alten 68er-Kauzen nur noch humoresk, so wie 1968 medial teilweise schon aufgebaut ist und verläuft. Der Blick mit Hassmaske direkt ins Auge des behelmten
Bullen, die Logik des Anschlags auf sekundäre Stätten der Verwertung, das Eingeständnis, keinen Zugang zum Zugriff auf die Mittel der Produktion und Reproduktion zu haben. 1968 sei ein Ergeignis gewesen, ... das wird hier wiederholt. Der tumbe Kommissar, der nix checkt,
sogar der protestantische Pfarrer ist ein Linker. Die Welt als linkes Dorf.
Vielleicht machen wir es uns aber mit dem Befund, okay hier sind Leute, die ihre Wünsche und die Verdrängung oder den Aufschub der Revolte, die verloren Revolte bei ihren Vorgängern formulieren, etwas zu einfach. Es wird doch auch ein Anspruch ganz oben angesetzt, der
über die 1. Person hinausgehen soll: "Geschichte wird Film – Geschichte ist jetzt – Film im Widerstand". Was nicht da ist oder nicht getan wurde, könnte da sein, könnte getan so und so aussehen. Das kann Film.
Aber macht dieser Film das? Nehmen wir die Abchiedsszene. Die Alternativen sind am Tisch entschieden, vor Ort oder an chancenreichen Orten kämpfen. Das ist ein "Der Kampf geht weiter"-Bekenntnis. Es wird trotzdem eine Pathosaussage des Tischgenossen wortwörtlich
kritisiert wird, der diese Stereotyp sagt "Kämpfen wo man sich auskennt", Pathos im Bild nicht abgelehnt. Jenny steigt, das Medaillon der Mutter umgreifend, den Berg hinauf. Es wird schwer. Sie geht, nach Rojava, um die Rätebewegung zu unterstützen. "Projektion", sagt ihr
Kritiker am Tisch. Auch wenn Pathos, das Evozieren von Emotion verbal benannt wird, bleibt das starke Bild, der Blick zurück, der Wink, am Berg, der zur Grenze führt, der Führer mit Palituch um den Kopf. Das Triebmoment für die Revolution, so hätte man vor Jahrzehnten
formuliert, bleibt die affektive Überzeugung.

Kann man da nicht sagen, dass der Film das hier wiedergewinnt?
Was anderes. Der Direktbezug zu Räten ist ausgemacht. Die nachlesbaren Termine der Vorführungen in den Kinos führen da einen Termin auf, wo "Deckname Jenny", schon institutionell, den Film "Rote Räte" featured. Damit ist die deutsche Rätebwegung und die verlorene Schlacht
vor und während Weimar auf dem Tisch.

Ich finde, das ist ein gutes Besipiel dafür, wie ein Film eben präsenteiert und nicht repräsentiert. Das alles im Kontext seines Diskurses. Filme sind Diskursmaschinchen. Das meinte Kino einmal. Ein Modell von Re-Präsentation wäre Abbild.
Und Abbild ist nur Replik?

Ich sage ja nicht, das das das letzte Wort ist. Aber seit der Bezugs-Epoche von "Jenny" spricht man von der Krise der Repräsentation. Das ist politisch als auch filmisch. Weil Film nur ein Medium von Diskurs ist. Das wurde vergessen, weil wir an
illusionistischen Kram gewöhnt wurden. Was eher in Videoclips wieder auftritt. Jennys und Theos Blick in die Kamera ist uns bekannt als Format Videoclip oder Fomat TikTok.

Es gab einen Turn.

Dem kann sich der Film auch nicht entziehen.
Ungefähr so: Linguistisches Denken ist einbegriffen, die Kämpfe sind komplexer, keine kann sagen, für die oder den zu sprechen, aber die Erzählung von "Jenny" rettet die Vorstellung von authentischen Erfahrungen.
Gut, also doch Repräsentanz und Präsentation. Hoffe, wir kommen davon wieder weg.

Wenn wir die Krise der Repräsentation, was zeigt ein Film, wer spricht für wen, bereden wollen, dann ist die Übernahme der Praktiken der Theorie genauso angesagt, finde ich. Warum sollte
die Suche nach der direkten Umsetzung von der Alternative nicht legitim sein? Sind die Zwänge nicht die gleichen wie in Mutters Vermächtnis? Soll ich zum Beispiel die Musik zum Film verwerfen, in der eine Utopie in den Text gegeben wurde von der Aneignung aller von
gesellschaftlichem Reichtum als Diktum? - "Nichts gehört dir nicht" lautet diese Zeile. Und eine Sehnsucht nach der Machbarkeit von Geschichtsveränderung?

Vielleicht eine Überschreitung der Begrenztheit von Theorien wie der Intersektionalität, die hier auftritt.
Kurz zurück zum Bezug 2. Juni 1967. Ulrike Meinhof hatte das Medium der Strasse, das ist aktuell, verteidigt, aus der Stellung ihrer Publikationstätigkeit heraus, und damit sofort auch das Reden im Interesse von Unterdrückten in anderen Ländern. Der Support für Menschen ohne
Status, die Seebrücke und die Konspiration werden nicht wie ein Abenteuer geschildert, sie werden eher wie freudig angenommener Stress inszeniert.

Inszene-setzen und inszeniert sind nicht das Gleiche. Inszeniert klingt wie "erfunden". Inszene-setzen ist ein offen angezeigter
Prozess.

Okay, ... ich wollte sagen, der Stress mit den Waffen des Brandanschlags und des Hacks lohnt sich für die Verknüpfung der als verschieden angeschriebenen Sektionen der Widersprüche zu einem Gesamtwiderspruch. Es sieht wie angerissen aus, der NSU, mein Deckname
ist Halit, Halit Yozgat, der Hardcorepunk als Soundtrack beim Polizeieinsatz, die queere Liebe, ein ganzes Sittengemälde, mit ihrer Funkion im Film.

Ja, warum bleibt das Bild nicht zum Beispiel stumm, wenn die dauern redende Polizei auftritt?
Weil der Film dem Druck nachgibt, etwas sagen zu wollen. Das hat aber seine Beziehung. Die etablierten, sagen wir Ferdinand von Schirach und Alexander Kluge deuten uns wie in Echtzeit die Welt. Das nervt.
Du meinst, hier artikulieren sich Leute selbst? "Die fetten Jahre sind vorbei" entwirft da was anderes. Da führt die Gewalt wie an Schleyer, der Guerillakampf nur zur Fahrt ins Off im VW-Bus. Aber Film oder Film sind magnum opi, also jeweils ein Opus Magnum, ein
Riesenaufwand und die Macherinnen von "Jenny" sind skeptisch was das Online-Format angeht. Kollektiv gesehen, bringt eine Sichtung plus Diskussion eben mehr Diskussion.
Der Kinotermin mit Queerfilm-Kassel, ursprünglich angesetzt für den 17.6.2020 18.30 Uhr wurde auf einen Monat später verschoben, siehe facebook . com / qfkassel.
Yelena heißt Yelena Simc und der Comiczeichner heißt Seyfried.
Nachbemerkung von Marga Krav: Dass die Reaktivierung der Alten die Entdeckung der Geschichte der Linken gleichkommt, macht den Film auch zum Material für eine Geschichtswerkstatt.
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