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Viele Menschen verhalten sich, als hätte jemand die letzten Monate zum Fehlalarm erklärt

Ich glaube, viele wollen einfach gerne "alles" für eine Weile vergessen. Wieder ein bisschen von dem "wie früher" erleben. Unbeschwertheit. Verlässlicher Grund.

THREAD zur Ortsbestimmung:
(ZEIT-Artikel:)

"Im März war die Bedrohungslage klar.

Die Welt schien ein einziger Covid-19-Liveticker, überall Berichte über Sterbende auf den Fluren von italienischen Krankenhäusern & Bilder von Särgen in New York, so zahlreich, dass sie in Lastern gestapelt werden mussten.
Aus der Bedrohungslage folgte: Alle müssen sich an die Regeln halten – sonst kommt die Katastrophe nach Deutschland.

Heute aber kommen aus den USA Bilder von Antirassismusdemos oder von halb leeren Trump-Arenen, nach Nachrichten aus Italien muss man fast suchen. [...]
In den vergangenen Wochen wurden bundesweit durchschnittlich etwa 350 neue Fälle pro Tag ans RKI gemeldet, zuletzt stiegen die Zahlen auf mehr als 630 Neuinfektionen pro Tag an. [...]
Aber selbst Ausbrüche wie in Göttingen, in der Tönnies-Schlachtfabrik oder die rasant steigenden Ansteckungszahlen in anderen Teilen der Welt, etwa in Brasilien, sind für viele höchstens eine latente Gefahr im Hintergrund.
Die Horrorbilder sind verschwunden, die Statistiken erscheinen beruhigend.

Es gibt keinen Impfstoff, keine idealen Medikamente, keine Entwarnung, und doch verhalten sich viele Menschen, als hätte jemand die letzten Monate zum Fehlalarm erklärt.

Wie kommt das?
Der britische Verhaltensforscher Nick Chater von der Universität Warwick [...] glaubt:

Menschen sind grundsätzlich in der Lage, über Monate und Jahre hinweg eine bemerkenswerte Solidarität aufrechtzuerhalten, besonders in Zeiten nationaler Krisen.
Jetzt aber, mit den Lockerungen in vielen europäischen Staaten, gebe es immer mehr widersprüchliche Signale aus Politik und Wissenschaft, was die Regeln sind und warum sie wichtig sind.

»Das schwächt unsere individuelle Motivation & verringert unseren sozialen Druck aufeinander«
[...] Dazu passt die Beobachtung des deutschen Fußballtrainers Jürgen Klopp beim FC Liverpool.

"Wenn ich in England zu einer Tankstelle gehe, bin ich der Einzige mit Gesichtsmaske und Handschuhen. Ich fühle mich wie ein Außerirdischer", sagte Klopp.
Wer nicht mit einem kloppschen Selbstbewusstsein ausgestattet ist, tankt das nächste Mal vielleicht maskenfrei.
Gerade jetzt, wo die Bedrohung in Europa vielen nur noch diffus erscheint, sei eine gute Krisenkommunikation die zentrale Aufgabe der Politik, sagt der Verhaltenspsychologe.
Man müsse Werkzeuge in der Hand haben, um Menschen noch erreichen zu können, falls sich zentrale Thesen zur Krise als falsch erweisen sollten – was ja in der Wissenschaft nichts Ungewöhnliches ist.
Chater: "Die menschliche Neigung, in zweideutigen Situationen eine einzige Interpretation durchzusetzen, birgt bei Covid-19 große Gefahren."
Menschen halten sich an Regeln, nehmen Einschränkungen in Kauf, wenn es sich für sie lohnt.

So lässt sich etwas verkürzt das Campbell-Paradigma beschreiben, das der Verhaltenspsychologe Florian Kaiser von der Universität Magdeburg weiterentwickelt hat.
Sein Erklärbeispiel ist ein Bergsteiger:

Der Ausblick ist die Motivation, für die er Gefahr, Anstrengung, Schmerz und Kälte in Kauf nimmt – Aspekte, die Kaiser in seinem Modell "Kosten" nennt.
In der Frühphase der Corona-Pandemie gab es bei vielen Menschen unterschiedliche Motivationen, sich an die Hygieneregeln zu halten.
Manche hatten Angst um sich, manche um andere, andere sorgten sich um das Gesundheitssystem oder die soziale Ausgrenzung, wenn sie sich nicht an die Regeln hielten.

Das Zuhausebleiben, das Herunterfahren – das waren Kosten, die die meisten bereit waren, in Kauf zu nehmen.
Jetzt, im Sommer, geht die Rechnung in Kaisers Modell nicht mehr auf. Die Motivation, sich an die Regeln zu halten, sinkt.

"Heute sind wir nicht mehr bereit, die Kosten zu tragen", sagt Kaiser.
Zum einen steigen die Kosten mit jedem Tag, zum anderen verstehen eben manche nicht mehr, warum die Regeln - also die Kosten - wirklich jemandem nutzen. Oder man sieht andere, die sich auch nicht dran halten. [...]
Gerade jungen Menschen fallen die Corona-Einschränkungen schwer. Sie lieben nur einmal die erste Liebe, die sie nun nicht besuchen sollen.

Sie wollen die Welt erobern und nicht warten, dass sie sich irgendwann langsam wieder für sie öffnet.
"Gerade in der Jugend gibt es das Bedürfnis nach starken emotionalen Erfahrungen", sagt die Wiener Psychoanalytikerin Hemma Rössler-Schülein.

Das Verbotene oder Gefährliche bedeute Lustgewinn – sei es nun beim Ladendiebstahl oder beim Bungee-Sprung.
Sicher wissen wir aber aus der Neurowissenschaft, dass wir Entscheidungen in Millisekunden treffen, auch wenn wir uns gern als rationale Wesen sehen, die Für und Wider sorgsam abwägen.
Stattdessen sind wir (vor)schnell und begeistern uns nach einer Entscheidung für die Fakten, die unsere Wahl bestätigen. [...]

In der Wissenschaft nennt man das confirmation bias, was sich mit Bestätigungsfehler übersetzen lässt. Wir glauben, was unsere Entscheidung bestätigt.
Für die Pandemie bedeutet das etwa: Wir haben uns sehr schnell entschieden, ob wir für oder gegen den Lockdown sind

oder zumindest ob wir einzelne Regeln für sinnvoll oder nicht halten – und suchen danach ständig nach Bestätigungen für unseren eingeschlagenen Weg.
Die lang andauernde Pandemie habe so auch das Potenzial, die Gesellschaft in zwei Gruppen zu spalten.

"Die Corona-Krise bedeutet Stress für unser Gehirn", sagt [Neurowissenschaftlerin] Fabritius.
Angst sei im Grunde eine natürliche, wichtige Reaktion, um auf Extremsituation schnell reagieren zu können.

Aber durch dauerhafte Angst schaltet sich der präfrontale Cortex für rationales Denken im Extremfall ab – eine Schutzfunktion.
Braucht es ein Narrativ für die Krisenkommunikation, eine Erzählung, hinter der sich alle versammeln können, wie es etwa Verhaltensforscher Chater nennt?

Fabritius rät zu Ehrlichkeit & Transparenz. Die Neurowissenschaftlerin sagt:
»Die Menschen können mit der Wahrheit umgehen.«"
MEIN Gefühl ist, dass zwei wesentliche Protagonisten in unserer deutschen Corona-Erzählung das Robert-Koch-Institut und Kanzlerin Merkel sind.

Mein Empfinden ist aber diese sich zurück gezogen haben, sie bestimmten nicht mehr stark das Geschehen mit.
Ich denke, für viele war das RKI - in Erzählsprache gesprochen - der Weise Berater des Volkes. Merkel - die Lenkerin, die die Zügel in der Hand hält.

Wir sind in eine seltsame Phase eingetreten. Ich empfinde es so, dass es da ein Vakuum im deutschen Corona-Märchen gibt.
Neue Figuren sind aufgetreten. Der Ramelow... der Laschet dröhnte lauter... Die Stimmen von Drosten & Söder traten stärker in den Hintergrund.

Ich empfinde es als ein etwas steuerloses Schiff. Entscheidungen teilweise willkürlich und nur pseudo-wissenschaftlich begründet.

NRW:
Wo geht unsere Reise hin? Welche Schlüsselfiguren braucht es? Was könnte uns hinter eine gemeinsame Mission vereinen?
Welche Akteuere sollten mutiger ihre (Gegen)Stimmen erheben?
Wie ist euer Empfinden dazu?

Wie könnten WIR unsere Stimme hörbarer werden lassen, Einfluss nehmen?
(Der obiger Auszug ist aus diesem Artikel:
zeit.de/wissen/gesundh…)
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