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Dieser Bericht bringt zum Einstürzen, was uns über Armut, Entwicklung und Wachstum erzählt wird.

@PhilipGAlston, der UN-Sonderberichterstatter zu extremer Armut und Menschenrechten, hat diese Woche seinen Endbericht präsentiert und unangenehme Wahrheiten ausgesprochen.

Thread.
.@PhilipGAlston sagt: "Extreme Armut wird nicht beendet."

Er kritisiert die "selbstgefällige Botschaft, die Fortschritte im Kampf gegen die Armut verkündet" und namentlich prominente Stimmen wie Steven Pinker, Martin Wolf, Abhijit Banerjee und Esther Duflo und die Weltbank.
Warum? Weil die internationale Armutsgrenze der Weltbank von 1,90 Dollar (Kaufkraftparität) nicht zu Messung von extremer Armut taugt und damit auch nicht als Maßstab für deren Beseitigung.
Sie ist dramatisch niedriger als die nationalen Armutsgrenzen in praktisch allen Ländern.
.@PhilipGAlston "Die Internationale Armutsgrenze ist ausdrücklich so konzipiert, dass sie einen erschreckend niedrigen Lebensstandard widerspiegelt, der weit unter jeder vernünftigen Vorstellung von einem Leben in Würde liegt."
Ein Beispiel: Die US-Regierung gibt als minimale Lebensmittel-Ausgaben für eine Person 5,04 Dollar am Tag an. Das ist mehr als doppelt so viel wie die internationale Armutsgrenze, also das Budget, mit dem man ALLE seine Bedürfnisse stillen können soll.
Außerdem verschleiert die Armutsgrenze etwa soziale und Gender-Ungleichheiten, und ganze Gruppen der Gesellschaft, die besonders von Armut betroffen, aber statistisch nicht oder kaum erfasst sind, wie Obdachlose, Hirtenvölker, Wanderarbeiter:innen, Geflüchtete etc.
Ein großer Teil des "Fortschritts im Kampf gegen die Armut" ist China zu verdanken, nicht globalen Entwicklungen.
Ohne China hätte sich die Zahl der mit weniger als 2,50 Dollar pro Tag lebenden Menschen zwischen 1990 und 2010 global kaum verändert.
Obwohl sich die Weltbank der Unzulänglichkeiten ihrer 1,90-Dollar-Armutsgrenze im klaren ist, bleibt diese weiter ihr wichtigster Maßstab im Kampf gegen die Armut. Das hat klarerweise auch großen Einfluss auf die Politik und von ihr ergriffene Maßnahmen.
Setzt man ehrlichere Maßstäbe an, zeigt sich: die globale Armut nimmt kaum ab.
Zwischen 1900 und 2015 sank die Zahl der Menschen, die mit weniger als 5,50 Dollar pro Tag auskommen müssen, nur von 3,5 auf 3,4 Milliarden oder von 67 % auf 46 %.
"Die Welt ist nicht einmal nah dran, Armut zu beenden."

Nicht einmal unter den optimistischsten Annahmen der Weltbank und mit der niedrigen 1,90-Armutsgrenze wird die Zahl der extrem Armen 2030 bei Null liegen.
Dazu kommt, dass Covid u Klimakrise die Armut weiter verschlimmern.
Laut Alston versagen die SDGs in wesentlichen Punkten und müssen überdacht werden. Dazu gehört:
- Wie Armut gemessen und bekämpft wird.
- Wie mit Ungleichheit umgegangen wird.
- Die Rolle von Wirtschaftswachstum …
- und dessen Zusammenhang mit der Klimakrise.
Wesentlich für den Erfolg der SDGs ist deren Finanzierung, die vor allem über die Mobilisierung privater Mittel erfolgen soll.
Alston bezweifelt das als richtige Strategie. Z. B. sind viele Maßnahmen zur Inklusion der Ärmsten schlicht nicht profitabel (=relevant) für Private.
Alstons Schritte, um den Kampf gegen die Armut zu verstärken:
- Beziehung zw. Wachstum und Armutsbekämpfung überdenken
- mehr Umverteilung
- Steuergerechtigkeit fördern
- Universelle soziale Absicherung umsetzen
- Fokus auf Staat
- politische Partizipation
- Armut anders messen
Wachstum:
Alston: "In zu vielen Fällen treten die versprochenen Vorteile des Wachstums entweder nicht ein oder werden nicht verteilt."
Pro-Markt und Pro-Wachstumspolitiken haben oft negative Auswirkungen auf Armutsbekämpfung und das Wohlergehen armer Menschen.
Ungleichheit und Umverteilung:
Zwischen 1980 und 2016 wanderten 27 % des globalen Einkommenszuwachses auf die Konten des reichsten 1 Prozent. 2017 bekam das 1 Prozent 82 % des neu erwirtschafteten Vermögens.
Derweil wächst das Einkommen der Ärmsten langsamer als das BIP.
❗️"Bei Fortsetzung historischer Wachstumsraten und ohne negative Auswirkungen des Klimawandels (unrealistisch) würde es 100 Jahre dauern, die Armut lt. 1,90$/Tag-Linie zu beseitigen und 200 Jahre bei 5$/Tag.

❗️Dafür brächte es eine 15- bzw. 173-fache Erhöhung des globalen BIP!"
Steuern sind essenziell zur Verringerung der Ungleichheit.
Doch wir oft kommen die Wörter "Besteuerung" und "fiskal" in der Agenda 2030 vor? Jeweils einmal.
Steuergerechtigkeit ist praktisch kein Thema in den SDGs.
"Im Jahr 2015 verlagerten multinationale Unternehmen schätzungsweise 40 Prozent ihrer Gewinne in Steuerparadiese, und die weltweiten Unternehmenssteuersätze sind von durchschnittlich 40,38 Prozent im Jahr 1980 auf 24,18 Prozent im Jahr 2019 gesunken."
.@PhilipGAlston schließt: "Armut ist eine politische Entscheidung und wird uns begleiten, bis ihre Beseitigung als eine Frage der sozialen Gerechtigkeit begriffen wird."

Sein Statement ist hier: chrgj.org/2020/07/05/phi…
der ganze Bericht hier zu finden: chrgj.org/wp-content/upl…
Traurig: Über den Bericht wurde von Medien bisher kaum berichtet, aus deutschsprachigen Raum habe ich gar keine Artikel darüber gefunden.

Warum ist das so? Wohin schauen Journalist:innen, die sich mit Entwicklung und Armut beschäftigen? Sind sie offen für unbequeme Positionen?
Was ist mit NGOs, für die die SDGs in ihrer derzeitigen Form wichtige Leitlinien oder sogar die Basis ihrer Arbeit sind?
Inwieweit nehmen sie Mängel ernst, hinterfragen die Ziele, die sie vertreten, und die ihrer Geldgeber? Ich sehe zu wenige kritische (und auch laute!) Stimmen.
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