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Lust auf eine kleine Text-Analyse? Wir schauen uns einen Auszug aus Gabor Steingarts neuem Buch an.

Steingart ist unterhaltsam, aber gefährlich: Er legt auf perfide Weise populistischen Lockstoff aus, sät Zweifel und bedient Verschwörungs-Narrative. 1/32
Er benutzt eine emotionale, theatralische, fast theologisch-pastorale Sprache und würzt seine Aussagen mit einer Überzahl von Aphorismen und Metaphern. Das könnte auf Grund der vielen schiefen Bilder lustig sein, wenn es nicht so traurig wäre. 2/32
Sein neues Buch ist eine Mischung aus Denkverbot-Lyrik, Angst-Porn und Erweckungsliteratur. Als ob Franz Josef Wagner, Attila Hildmann, ein Prediger und ein durchgeknallter Börsenguru an einem Tisch gesessen hätten. 3/32
Weil nicht alle im Medien-Business sind: Steingart war zwei Jahrzehnte beim „Spiegel“, danach Chef beim „Handelsblatt“ und ist jetzt Gründer eines Medien-Startups unter Beteiligung von Axel Springer. Manche kennen ihn von seinem Newsletter "Morning Briefing". 4/32
Auch dank der Springer-Kohle (15 Mio, so eine Schätzung der SZ) hat er ein Redaktionsschiff bauen lassen und viele, teilweise top-qualifizierte Medienschaffende angeheuert. Auf dem Spree-Dampfer empfangen er und seine Leute wichtige Politiker und Wirtschafts-Promis. 5/32
Nun hat S. eine „Rede zur Lage unserer Nation“ in Buchform verfasst, „Die unbequeme Wahrheit“. Auf „bild_de“ gab es einen Auszug, den ich mir gerne mit Euch anschauen würde

(Natürlich ist dort nicht erwähnt, dass in Steingart viele Springer-Mios stecken) 6/32
Steingart beginnt mit einem klassischen rhetorischen Trick und baut über angeblich bestehende Gemeinsamkeiten eine Brücke zu seinem imaginären Publikum.

Kennt ihr alle... Machen Künstler bei Auftritten in ähnlicher Form gerne auch so („Toll, hier in Dortmund zu sein.“) 7/32
Im Unterschied zu anderen Rednern, die auch auf Anbiederung setzen, übertreibt er hemmungslos und überzieht seine Worte mit den zuckersüß herbei fantasierten “Gefühlen des Vertrautseins”. 8/32
Ähnlich plump geht es weiter, wobei sich S. keine Mühe macht, den Griff in die rhetorische Trickkiste zu verbergen, sondern direkt die Gemeinsamkeits-Karte ausspielt.

Wie wenig glaubwürdig das ist, wird durch die Bezugnahme auf „unsere Wohnquartiere“ deutlich. 9/32
Das “Wir” und das “Gemeinsam” täuschen eine gemeinsame soziale Basis vor, aber nicht alle verfügen über eine so privilegierte Wohnsituation wie Herr Steingart.
Anders ausgedrückt: In einer Villengegend lässt es sich besser ausweichen als in einer anonymen Großwohnsiedlung. 10/32
1.) Kein Mensch war politisch stumm geschaltet.

2.) Nicht die „Staatsgewalt“, sondern der gesunde Menschenverstand (und Seife) ließ uns unsere Hände waschen.

3.) „Happy Birthday“ diente lediglich als Gedankenstütze und Zeitmesser für 30 Sekunden. 11/32
Der Absatz dient zwei Zwecken:

1.) Er möchte eine sinnvolle Präventionsmaßnahme lächerlich machen. Also mobbt er das Händewaschen.🙄

2.) Das Aufbauen des Endgegners: Der bösen „Staatsgewalt“, die ihre Bürger wie unmündige Kinder behandelt. 12/32
Die Demokratie bezeichnet eine politische Herrschaftsform, bei der Macht und Regierung vom Volk ausgehen. Dies war auch während der Pandemie der Fall. Die freiheitliche demokratische Grundordnung war keineswegs bedroht, die Demokratie hatte keine "Aussetzer". 13/32
Besonders verstörend ist hier Steingarts Formulierung „ein Land, ein Volk und eine Führung“.

Dabei handelt es sich um eine Abwandlung der Nazi-Losung "Ein Volk, ein Reich, ein Führer“, mit der die NSDAP für nationale Geschlossenheit warb. 14/32
Dieser perfide, weil nur angedeutete Vergleich hätte auch von den Pegida-Wutbürgern, Reichsdeutschen oder Verschwörungsmystikern kommen können. Als weitere Verunglimpfung der „Merkel-Diktatur“. 15/32
Steingart schmäht die Arbeit der Virologen als „Festival der Apokalypse“ und unterstellt ihnen eine Art Geheimplan.

Er bedient damit ein typisch rechtes Narrativ, Wissenschaftler seien Teil einer Weltverschwörung. Wir erinnern uns: AfD und Trump leugnen den Klimawandel. 16/32
Nun inszeniert sich Steingart als allwissender Weltenerklärer, der sich als Patriot Sorgen um die Zukunft unserer „stolzen Nation” macht.

Mehr Anmaßung und mehr völkischer Sound geht wohl kaum. 17/32
Typisch für Steingart: Er beginnt mit einer Metapher und versucht diese krampfhaft beizubehalten, auch wenn die Bilder immer bemühter werden.

Das „Du und ich mittendrin“ ist der plumpe Versuch, Nähe herzustellen und sich beim Publikum anzukumpeln. 18/32
Die altertümliche väterliche Sprache ist Teil der diffusen Behauptungs-Rhetorik ohne jeden Beleg.

Das Ziel: Sein Publikum soll sich klein und verlassen fühlen.

Damit ER es wieder aufbauen kann… 19/32
Die Formulierung einer „global komponierten Weltuntergangssymphonie“ unterstellt, dass da ein geheimnisvoller Komponist am Werke war.

Das soll einen Trigger setzen: „Wer kann das sein? Das Weltjudentum? Die Rothschilds? Bill Gates?“ 20/32
Man könnte meinen, Gabor Steingart will seine Leser mit Gaga-Geschwurbel fern jeder Logik so rammdösig machen, dass sie seinen Einflüsterungen hilflos ausgeliefert sind. Denn natürlich ist das Gegenwärtige in der nächsten Sekunde schon das Zukünftige. 21/32
Abgesehen davon, dass wir Gegenwart nicht herstellen, sondern sie tatsächlich permanent existiert:

Da kein Mensch verbindlich sagen kann, wie es bei Covid-19 weitergeht, beschränkt sich der politische Handlungsspielraum im Wesentlichen auf die Gegenwart. 22/32
Durch die unbestimmte Verwendung von „man“ und „ihnen“ öffnet Steingart den Fantasie- und Projektionsraum, ein beliebtes Stilmittel bei Verschwörungs-Geraune.

Die Absicht: Steingarts Adressaten sollen sich die im Hintergrund wirkenden, finsteren Mächte selbst ausmalen. 23/32
Zur Polarisierung setzt Steingart auf einen Antagonismus: Auf der einen Seite eine Elite („Expertenkollektiv“) und auf der anderen Seite “wir Bürgerlein“ und „folgsame Untertanen“.

Verschwörungs-Rhetorik vom Feinsten. 24/32
Auf das Schreckensszenario vom „autoritären Durchregieren“ setzt Steingart noch einen drauf, indem er unsere aktuelle Regierung mit der DDR eines Walter Ulbricht vergleicht, der seine Pläne zum Mauerbau abstritt.

Ein besonders übler demagogischer Move - von beiden... 25/32
Bei den AfD-lern und Pegidisten sind es die angeblichen „Denk- und Sprechverbote“, bei Steingart die „Verbotsschilder der politischen Korrektheit“. Andere Formulierung - meint das Gleiche.

Und die Spanplatte, die „angenagelt“, aber „locker“ ist? Geschenkt... 26/32
(Oh, mein Gott, ist das alles schlecht… Ich kriege gerade akute Gehirnschmerzen.)

27/32
Wenn Demokratie beginnt, wenn andere wollen, dass Du schweigst, dann will ich, dass Du schweigst, Gabor, denn ich freue mich, wenn Demokratie beginnt.

Aber im Ernst: Hier will uns Steingart nochmal das Märchen von den angeblichen Denk- und Sprechverboten unterjubeln.

28/32
Fazit: Steingarts "Rede" ist feinster Lockstoff für Polit-Esoteriker, Reichsbürger, Verschwörungsideologen, Corona-Leugner, Querfrontler und Rechtsextremisten. Hinter seinem bürgerlichen Auftreten versteckt sich ein eitler Demagoge, der AfD-Gedankengut Vorschub leistet. 29/32
Was mir Sorgen macht: Steingart sieht sich auf einer Mission und er hat sowohl finanzielle Mittel als auch gute Kontakte. Das macht ihn gefährlich und deshalb lohnt die Mühe, sich damit auseinanderzusetzen. 30/32
PS: In dem Zusammenhang eine Botschaft an Steingarts MitarbeiterInnen: Euch droht ein erheblicher Reputationsschaden. Wer hinter so einer Fahne herläuft, macht sich mit einem Rechtspopulisten gemein.

Höchste Zeit, die Bewerbungsunterlagen zu aktualisieren, oder? 😉 31/32
PPS: Und zur Belohnung habe ich noch ne Zugabe für Euch: Die Weihnachtsgeschichte im Original Steingart-Sound.

Geschrieben zu einer Zeit, als ich über den Steingart-Stil noch mehr lachen konnte. 32/32

uebermedien.de/44727/steingar…
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