Raten Sie mal, wer seit heute Morgen 07:00 Uhr zwischen großformatigem Papier am Rechner sitzt und versucht, per Webcam mit einem nicht gerade technikaffinen Dolmetscher den Aufbau unserer Maschine in Russland zu koordinieren.

Kommen Sie nie drauf.
Zwischenstand:

Die Schlosser vor Ort haben bis jetzt nicht alle Teile gefunden, die für die Platzierung und Ausrichtung der Maschine unabdingbar sind.
Vorsichtshalber war aber bereits der Autokran da, hat die Großteile einfach schon mal so abgestellt und ist jetzt wieder weg.
Zur Sicherheit sind jetzt auch alle Schlosser und der Dolmetscher kommentarlos verschwunden.
Beobachte seit 30 Minuten zwei Webcam-Streams einer menschenleeren Halle, in der unsere Maschinenteile kreuz und quer rumstehen.

Läuft.
Das wird super.
Ha! Jetzt läuft da ein einsames Männchen mit den Händen in den Taschen vor den Maschinenteilen im Kreis.
Hab ich wenigstens was zu gucken.
Ich bin traurig.
Seit 20 Minuten ist mein Kreislaufmännchen verschwunden.
Stattdessen beobachte ich jetzt den sich durch den Sonnenstand verändernden Lauf der viereckigen Lichtflecken an der Hallenwand. Einziger Anhaltspunkt dafür, ob ich noch im Stream oder im Freezeframe bin.
Nachricht an den Dolmetscher:
»Passiert heute noch was oder ist bei Euch Feierabend?«

Antwort:
»Bin auf einer anderen Baustelle. Hab dem Baustellenleiter gesagt, er soll mich anrufen, wenn er Fragen an Dich hat. Nun meldet er sich nicht, das heißt, alles läuft gut.«

Baustelle:
Smartphone-Akku bei 1%.

Notiz an mich:
Für den Rest des Projekts eine Powerbank einpacken.
07:00 Uhr.

Ausgeruht, vollgepackt mit Motivation und Zuversicht nehme ich am Rechner Platz.
In Russland ist es bereits 11:00 Uhr, das Team vor Ort hatte also bereits einige Stunden Zeit, die fehlenden Teile zu finden, zu platzieren und mit Kraft und Autokran loszulegen.

Webcam:
Muss ich betonen, dass sich dort inzwischen nichts, aber auch gar nichts getan hat?
Habe die Webcams eben neu gestartet, um sicher zu gehen, dass ich nicht im Standbild von gestern bin.
Aber der Dolmetscher reagiert auch nicht auf meine Nachrichten, also läuft wohl alles gut.
Ha! Endlich kommt Bewegung in die Sache!

Zwei hochmotivierte Hilfsarbeiter haben mir ein desolates Gerüst ins Bild geschoben.
Ich bin nicht sicher zu welchem Zweck, immerhin steht die Maschine im Hintergrund am Boden, aber an diesem Punkt des Projektes bin ich dankbar für alles.
Ein Kran, ein Kran! Wir haben einen Kran!
Die Typen machen mich fertig.
Vor einer Stunde Nachricht vom Dolmetscher:
»Bin unterwegs und gleich vor Ort!«
Eine Stunde später:
Kein Dolmetscher.

Dafür ist der Kran in Aktion.
Die Absaugung wird installiert.
Also, das was dran ist, wenn alles andere läuft.
Darum das Gerüst.
Ich glaube, ich stelle diesen Thread ein. Wenn ich erzählen würde, was hier gerade passiert, würden Sie mir unterstellen, ich würde mir absurde Geschichten ausdenken, um die Russen lächerlich zu machen.

Unfassbar.
Also.

Die Halle für die Maschine wurde extra neu gebaut.
Da Teile des zur Maschine gehörigen Transports in den Boden eingelassen werden, hat der Kunde von uns vorab seitenweise Fundamentpläne bekommen, auf denen alle Öffnungen für Transport, Leitungen etc. eingezeichnet sind.
Jetzt schickt der Dolmetscher mir ein Bild.
Zu sehen ist ein rechteckiges Loch im Betonfundament, ca. 1 m tief, am Ende einer der Bodenöffnungen für unseren Wagentransport, direkt unter den im Boden eingelassenen Schienen, auf dem die Ofenwägen später laufen.

Ich: Was ist damit?
Er: Eine Öffnung für Wartung.

Ich: Ja?

Er: Wir haben die Position falsch gesetzt. Und jetzt ist die Vertiefung für den Transport zu kurz. Der Kettenschieber ragt darüber hinaus.

Ich: Schlecht. Wie weit?

Er: Moment.
(Russisch im Hintergrund)
Ja, also,.. etwa anderthalb Meter.
Ich: Ähh..

Er: Ja, wir hatten jetzt die Idee, die Kettenschieber für den Transport auseinanderzuschneiden, ein Stück herauszutrennen und wieder zusammenzuschweißen, so dass er in die Öffnung passt. Meine Frage ist, können wir das machen, oder beeinträchtigt das die Funktion?
Ich:
Nur damit Sie mich richtig verstehen:
Weil das Betonfundament falsch ist, haben die Experten vor Ort die fabelhafte Idee, anderthalb Meter aus unserer Maschine herauszuflexen und das ganze wieder zusammenzuschweißen.
Und wollen nun wissen, ob die Maschine dann noch funktioniert.
Habe fachlich adäquat übermittelt, dass sie gefälligst ihre Flossen von der Maschine zu lassen haben und stattdessen ihre beschissene Wartungsöffnung zubetonieren und versetzen sollen.
Dann habe ich den Auftrag ausgestempelt und kümmere mich nun wieder um mein Indien-Projekt.
Ich sehe das positiv.
Wäre ich jetzt vor Ort gewesen, hätte das meinen Aufenthalt locker um eine Woche verlängert.
Ich komme nicht darüber hinweg.
Man stelle sich vor:

Anruf bei Rolls-Royce:

»Ich habe ein Auto von Ihnen gekauft.«

»Ja?«

»Nun ja, meine Garage ist einen halben Meter zu kurz. Kann ich aus dem Auto in der Mitte ein Stück herausschneiden und es dann wieder zusammenschweißen?«
Die Schlosser vor Ort haben beschlossen, das Problem mit dem Fundament für den Transport jemand anderem zu überlassen und an der Maschine selbst weiterzumachen.

Anweisung von mir:
Seitenteile a und b der Y-Achse auf Maß zu den Schienen ausrichten. (+/- 1,0 mm)
Die Hilfsträger..
... montieren, um den richtigen Abstand der Seitenteile zueinander zu gewährleisten, und die Seitenteile auf Winkligkeit geprüft und mit einem Nivelliergerät an allen vier Ecken auf eine Höhe gebracht werden (Toleranz +/- 0,1 mm pro Meter.)
Anschließend muss mit einer...
... Wasserwaage die Ausrichtung geprüft werden. (+/- 0,1 mm pro Meter)
Wenn alles ausgerichtet ist, kann die Brücke c aufgesetzt werden. Stimmt die Ausrichtung, passen die Lochbilder links und rechts exakt zueinander und die Auflageflächen von Seitenteilen a und b und Brücke c..
... sind spaltfrei. (< 0,05 mm).

(Eine Arbeit, die ich und meine Kollegen hier in der Regel zu zweit erledigen.)

Schlosser vor Ort:

Seitenteile werden Pi mal Daumen abgestellt, der Abstand zu den Schienen mit dem Zollstock gemessen. Hilfsträger werden montiert, dann die Höhe..
.. mit dem Zollstock eingestellt.

Anschließend wird die 4 Tonnen schwere Brücke mit dem Kran aufgesetzt, 30 Minuten lang versucht, das Lochbild zueinander zu bringen (natürlich erfolglos), anschließend die Brücke wieder angehoben und einer dackelt los, ein Nivelliergerät suchen.
Die anschließende, längst überfällige, Ausrichtung der Seitenteile mit der geballten Energie hochmotivierter Fachkräfte sieht dann jetzt so aus:
Inzwischen wünsche ich mir sehnlichst mein gestriges Kreislaufmännchen oder die Sonnenflecken an der Hallenwand zurück.
Die zu beobachten war wenigstens nicht derart nervenaufreibend.
Halleluja!
Die Brücke ist drauf.

Ob sie jetzt maßgenau sitzt oder nur abgestellt wurde, damit der Kranfahrer in Rekordzeit abbauen und abrücken konnte, kann ich leider nicht sagen, denn mein Dolmetscher ist schon wieder seit 2 Stunden verschwunden.

Alle anderen jetzt auch.
Sie könne jetzt auch Feierabend machen. Ich habe hier für heute fertig.

Ich werde jetzt runter in die Montagehalle gehen und selbst noch etwas schrauben, ein wenig fachkundiges Gegengewicht zum heute fernerduldeten Dilettantismus.
Bin gespannt, was morgen passiert.

До свидания!
07:00 Uhr.
11:00 Uhr in Russland

Seit gestern nichts passiert und niemand auf der Baustelle.
Ich erkenne ein Muster.

Ich vermute, man fängt erst an, wenn ich auch am Platz bin.
Wäre sinnvoll, würden sie nicht 3 Stunden vor mir Feierabend machen.

Dolmetscher?
Nicht erreichbar.
Für die Inbetriebnahme vor Ort waren bei 9 Stunden Arbeitszeit 14 Tage geplant, davon 8 Tage nur für den Aufbau.
Da die jetzt in 2 Tagen erledigte Arbeit der leichteste Teil war und mich etwa 4 Stunden gekostet hätte, rechne ich mit einem Impfstoff, noch bevor die Maschine läuft.

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16 Sep
Puuh...
Ich bin gerade knapp einem Erstickungstod entronnen.

Ein Kunde in Russland hat vor 2 Monaten eine Maschine geliefert bekommen. Jetzt drängt er auf Inbetriebnahme, was natürlich wegen Corona ausgeschlossen ist. Und nun fragte mein Chef gerade, ob wir deren Schlosser..

1/
... nicht per Livevideo-Chat durch den Aufbau leiten könnten.
Nachdem ich mich wieder beruhigt hatte, habe ich diesen Vorschlag klar verneint und nun schmerzt meine Bauchdecke vom Lachen.

Schön zu sehen, wie wenig Ahnung unsere Firmenleitung eigentlich von dem hat, was wir tun.
Ich meine das übrigens wörtlich.
Ich bin vor Lachen in der Werkstatt zusammengeklappt. Volles Programm. Lachtränen, hochroter Kopf und Atemnot. Jedes Mal, wenn mir Bilder vom konkreten Ablauf in den Sinn kamen, hat es sich noch mehr aufgeschaukelt.
Mein Chef war etwas betreten.
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