Dinge, die ihr beachten solltet, wenn ihr über Verbrechen an behinderten Menschen (wie die Potsdamer Morde) sprecht - ein Thread
1) Es gibt keine Erlösung, keinen "Gnadentod".

Der Gedanke, behinderte Menschen zu töten, um sie von ihrem Leid zu erlösen, ist tief verwoben mit der ableistischen Vorstellung, dass das Leben mit einer Behinderung ein Schicksal schlimmer als der Tod ist.
Zu betonen, dass Täter*innen sich selbstlos um die Opfer gekümmert haben, spielt dem Klischee, dass behinderte Menschen und ihre Bedürfnisse eine Last sind, in die Hände. Beide Argumente untergraben in grober Weise die Humanität behinderter Menschen.
Wir brauchen kein Mitleid, sondern Menschenrechte.

#Potsdam
2) Geschichtsbewusstsein ist der Schlüssel

Bedenkt, dass die Idee des "Gnadentods" und die Abwertung behinderten Lebens eng mit #Eugenik verbunden sind, einer Ideologie und Praxis, die behinderte Menschen als minderwertig und damit lebensunwert einstuft.
Dies gilt insbesondere in Deutschland, wo der Begriff des "lebensunwerten Lebens" verwendet wurde, um die organisierte Tötung von behinderten Menschen während des Nazi-Regimes zu rechtfertigen, auch bekannt als Aktion #T4.
Nach dem Zweiten Weltkrieg wurde behinderten Menschen die Anerkennung als Opfer der Nationalsozialisten verweigert. Stattdessen erlebten viele von ihnen weiterhin Diskriminierung, Gewalt und Segregation in allen Aspekten ihres Lebens (wie Bildung und Wohnen).
Mindestens zwei der Opfer der Potsdamer Morde lebten seit ihrer Kindheit in Heimen.
3) Hört auf, Ausreden vorzuschieben

Bei der Berichterstattung über die Ermordung behinderter Menschen konzentrieren sich die Medien meist auf die Täter*innen. Dies geht oft Hand in Hand mit der Verwendung bestimmter Stereotype als vermeintliche Entschuldigung für deren Taten.
Dies geht oft Hand in Hand mit der Verwendung bestimmter Stereotype als vermeintliche Entschuldigung für deren Taten. Die häufigsten Stereotype sind die der überarbeiteten, selbstlosen Pfleger*innen oder deren psychische Erkrankung.
Diese Stereotype werden verwendet, um sich in die Situation der Täter*innen einzufühlen (die überlastete, selbstlose Pflegekraft) oder sich von den Verbrechen (begangen von psychisch kranken Anderen) zu distanzieren.
4) Struktureller Ableismus ist real

Berichte über Verbrechen gegen behinderte Menschen sollten die ableistischen Strukturen untersuchen, die diese Gewalt ermöglichen, wie z.B. Machtstrukturen und Abhängigkeitsverhältnisse.
Anstatt jedes Verbrechen als Einzelfall zu behandeln, ist es wichtig, die Parallelen zu ähnlichen Fällen aufzuzeigen. Zum Beispiel:
- Die Ermittlungen gegen 145 (!) Angestellte eines Heims für behinderte Menschen in Bad Oeynhausen wegen des Verdachts der Freiheitsberaubung und Körperverletzung im Januar 2021.
- Die Sagamihara-Morde im Jahr 2016, die von einem ehemaligen Mitarbeiter einer Einrichtung für behinderte Menschen in Japan begangen wurden und den Tod von 19 behinderten Menschen zur Folge hatten.
- Der Fall Nils Högel, einem ehemaligen Krankenpfleger, der für die Tötung von min. 85 Menschen in zwei Kliniken zwischen 1999 und 2005 verurteilt wurde.
5) Erkennt die Auswirkungen von Sparpolitiken

Obwohl es gut erforscht ist, dass behinderte Menschen, die in Einrichtungen leben, ein höheres Risiko haben, körperliche, sexuelle und psychische Gewalt zu erfahren, zwingen Sparpolitiken immer mehr von ihnen in Einrichtungen.
Der deutsche Gesundheitsminister Jens Spahn warb während der Pandemie für ein neues Gesetz (#IPReG) zur Intensivpflege, das besonders die behinderten Menschen bedroht, die im Alltag auf Beatmung angewiesen sind.
Während viele von ihnen mit persönlicher Assistenz selbstständig leben, wäre der Umzug in eine Einrichtung für den Staat die billigere Alternative.
Die Proteste gegen dieses Gesetz (#IPReG) vor dem Deutschen Bundestag und in den sozialen Medien wurden fast ausschließlich von behinderten Menschen und ihren engsten Freund*innen und Angehörigen unterstützt.
6) Hört behinderten Menschen zu

Medienberichte fördern nicht nur ableistische Stereotype, sie verzichten häufig auch darauf, die Perspektiven behinderter Menschen in ihre Berichterstattung einzubeziehen.
Wenn ihr in diesen Zeiten eure Solidarität mit der behinderten Community zeigen wollt, stellt ihre Stimmen in den Mittelpunkt, wenn ihr euch mit den Verbrechen an Mitgliedern ihrer Community beschäftigen.

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1) There are no such things as „mercy killings“

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@BMG_Bund @BMAS_Bund @RegSprecher
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