Wir Menschen haben einiges darüber herausgefunden, wie die Welt funktioniert, aber trotz unseres Bildungssystems ist das Wissen darüber nicht sehr weit verbreitet. Das beginnt mit der verbreiteten Illusion, es gäbe so etwas wie "freien Willen".
Dieser Irrtum ist verständlich, scheinen wir doch in der Lage, aufgrund von Gedanken unseren Körper zu bewegen und so die Welt und die Zukunft zu verändern. Aber wie entscheiden wir, was wir denken? Unser Gehirn besteht aus Materie, die physikalischen Gesetzen gehorcht,...
...und nirgendwo in diesen Gesetzen ist Raum für "freien Willen". Unser Gehirn führt Berechnungen durch. Zwei Möglichkeiten: 1) Die Berechnungen und ihr Ergebnis sind vorherbestimmt, deterministisch, wie in einem Computer. Nirgendwo etwas "frei" zu entscheiden.
Möglichkeit 2): Dinge passieren zufällig, durch klassisches Chaos oder durch Quanteneffekte. Zufällig ist aber nun mal zufällig und hat per Definition auch nichts mit einer Willensentscheidung zu tun.
Man kann jetzt hingehen und Bewusstsein und Quantennatur mystisch vermengen und sich einbilden, dass Messungen bzw. Verschränkung von Quantenzuständen in unserem Gehirn und mit denen unserer Umgebung sich irgendwie als freier Wille manifestieren,...
...aber unsere Gedanken sind nun mal das Ergebnis der physikalischen Realität und nicht umgekehrt. Dass wir den Eindruck haben, mit unseren Gedanken und Ideen die physikalische Realität zu formen, zumindest manchmal, hat mit etwas anderem zu tun:
Die Natur hat uns mit einem Gehirn und mit Sinnen bzw. einer Rechenmaschine und Sensoren ausgestattet, damit wir denken und dadurch besser leben können. Durch Denken errechnen wir Handlungen, die möglichst die Wahrscheinlichkeit erhöhen, dass unser Bedürfnisse befriedigt werden.
Unser Gehirn simuliert laufend bestimmte Aspekte unserer Umwelt bis hin zu dem, was in anderen Köpfen wohl vor sich gehen mag, und entwirft ständig neue Modelle und Handlungsoptionen und Strategien und verschiedene Versionen der Zukunft, und wählt dann Aktionen aus, um die ...
...Eintrittswahrscheinlichkeit einer Zukunft zu verbessern, die positiv bewertet wird. Vor allem aber wollen wir die Versionen der Zukunft zu vermeiden, die Tod oder Schmerz beinhalten. Wie aber passt das damit zusammen, dass wir keinen freien Willen haben?
Nun, wir haben keine Wahl, wir müssen diese Berechnungen anstellen, oder es ergeht uns übel. Und ja, wir können uns dabei verrechnen und im schlimmsten Fall sterben, etwa, wenn wir die Straße überqueren, ohne auf den Verkehr zu achten.
Dass der Gang der Dinge vorherbestimmt ist, spielt deswegen keine Rolle, weil niemand im Detail wissen kann, was passieren wird. Durch Denken können wir aber bestimmte Aspekte der Zukunft vorausberechnen, sozusagen eine Abkürzung nehmen, durch Vereinfachungen und ...
...Rechentricks der Gegenwart vorauseilen, etwa, wenn wir die Hände in Position bringen, um einen Ball fangen oder wenn wir ein Bremspedal betätigen, um vor der Ampel zum Stehen zu kommen. In beiden Fällen löst das Gehirn intuitiv komplexe Differentialgleichungen in Echtzeit,...
...und wir sind ziemlich gut darin, unsere unmittelbare Umgebung zu simulieren und unsere Einflüsse bzw. Auswirkungen unserer Aktionen darin vorherzusagen und zu kontrollieren. Spiel und Sport sind im wesentlichen ein Training unserer Rechen- und Aktionsfähigkeiten.
Es gibt allerdings vielfältige Grenzen unserer "Rechenkünste". Zum einen können wir den aktuellen Zustand der Welt nur unvollständig erfassen, zum anderen geschehen Dinge, die nicht vorhersagbar sind, weil es keine einfachere Berechnung gibt als die, die die Natur durchführt.
Diese Aspekte bzw. Ergebnisse von Ereignissen sind effektiv nicht vorausberechenbar, weil dazu genauso viel Rechenschritte notwendig sind, wie die Natur sie auf Quantenebene durchführt, und keine Simulation, im Kopf oder mit Computern, kann das Ergebnis schneller vorwegnehmen.
Wir können natürlich vorhersagen, wie wahrscheinlich es ist, dass eine von zwei Fußballmannschaften gewinnt, aber um den Meister zu küren, muss das Spiel gespielt und müssen Tore geschossen werden.
Ein Effekt unserer ständigen Vorausberechnungen der Zukunft ist, dass diese mit in den Ausgang von Ereignissen eingehen. Wir haben zwar keine Wahl, ob und welche Berechnungen wir durchführen, aber dennoch bestimmen unsere Berechnungen unsere Zukunft mit.
Unsere Aufgabe in diesem Universum ist, zu leben und zu denken und eine Zukunft real werden zu lassen, in der wir möglichst lange und gut leben und denken können.
Wer es metaphysisch oder transzendent hören möchte: Unsere Aufgabe ist es, Gott oder dem Universum dabei zu helfen, die Zukunft zu entdecken, indem wir sie wahr werden zu lassen.
Die Natur des Universum ist so, dass keine Entität, die weniger komplex ist als das Universum, seine Zukunft im Detail vorhersagen kann. Gäbe es einen Gott, müsste auch Gott das Ende des Spiels abwarten, um zu wissen, wer welche Tore schießt, auch wenn es vorbestimmt ist.
Die Enttäuschung darüber, dass wir keine freie Wahl bzw. freien Willen haben, wird vielleicht dadurch kompensiert, dass ein Universum mit Menschen drin ein interessanteres Universum ist als eines ohne Menschen. Unser Job ist, das Universum interessanter zu machen.
Können wir uns weigern, diesen Job zu machen und zu rechnen und zu leben? Nicht wirklich. Jedenfalls nicht im Sinne einer "freien" Entscheidung. Wenn wir aber keine Wahl haben, warum sollten wir uns überhaupt den Kopf über irgendwas machen?
Nun, es gibt nun mal eine gewisse Logik im Universum, und die besagt, dass wenn wir uns keinen Kopf machen, wir das nicht lange überleben, und weil die meisten von uns nicht sterben wollen, machen wir uns einen Kopf. Kein freier Wille im Spiel.
Des weiteren besagt die Logik, dass unsere Entscheidungen bestimmt werden von den Informationen, denen wir ausgesetzt waren, und so kommt der Auswahl der Informationen, denen wir uns aussetzen, eine besondere Bedeutung zu. Wir nennen das auch Bildung.
Obwohl und weil unser Weg vorbestimmt ist, müssen wir ihn gehen. Die Berechnungen, die wir machen und die Entscheidungen, die wir treffen, bestimmen die Zukunft. Obwohl wir keine freie Wahl haben, müssen wir uns doch laufend für oder gegen eine Zukunft entscheiden. C’est la vie.

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