Als die Nationalgalerie Berlin vor elf Jahren Lotte Lasersteins „Abend über Potsdam“ erwerben konnte, sorgte das für Aufsehen. Eine zu unrecht kaum beachtete Künstlerin rückte in den Fokus der Aufmerksamkeit – ein Thread aus Anlass dieses Bildes (und zu weniger anderer). (1/x)
Nicht nur war erst jüngst eine Retrospektive im @staedelmuseum, im @BG_Museum und der Kunsthalle Kiel zu sehen, vielmehr kündigte die Nationalgalerie an, mit Lasersteins Gemälde ihre neue Dauerausstellung „Die Kunst der Gesellschaft, 1900–1945” eröffnen zu wollen. (2/x)
Seit wenigen Tagen wissen wir, dass es genau so auch gekommen ist. Der Museumsbau von Mies van der Rohe ist, wenn man so sagen kann, wieder ganz der alte, das Feuilleton hat gejubelt und David Chipperfield Architects über den grünen Klee gelobt. (3/x)
Weniger ausführlich war hingegen von der neuen Sammlungsausstellung die Rede – und ich daher umso neugieriger. Ein sozialgeschichtlich perspektivischer Blick auf die zurecht gerühmte Berliner Sammlung mit Laserstein als Frontispiz, das klingt vielversprechend! (4/x)
Ganz ohne Frage ist der „Abend in Potsdam“ ein, wie man so sagt, berückendes Bild: atmosphärisch dicht, voller unausgesprochener Ahnungen, geheimnisvoll. Eines aber fällt vor allem auf: Die junge Frau in der Bildmitte schaut so überaus ernst. (5/x)
Ihr Blick erfasst nichts vor ihr Liegendes, ist in sich gekehrt, sehr nachdenklich. Es gibt hierfür bestimmt gute Interpretationen. Ich möchte eine hinzufügen, die ohne Frage haltlos ist, an den Haaren herbeigezogen. Ich halte sie dennoch für richtig und wichtig. (6/x)
Der von Mies angelegte offene Parcours macht es eigentlich unmöglich, die Säle trennscharf voneinander zu unterscheiden. Ungefähr zwölf verschiedene Räume sind es, hinzu kommt der Skulpturengarten vor der Glasfassade – sehr viel Raum für sehr viel Kunst. (7/x)
Die Kurator:innen haben ihn halb kunsthistorisch („Abstraktion“), halb zeithistorisch („Propaganda“) bespielt. Über die starke Didaktisierung des Ganzen durch ausführliche Wandtexte kann man streiten, mir waren sie zu aufdringlich. Aber geschenkt. (8/x)
Was man aber nicht ebenso schnell herschenken kann, das ist die in der Ausstellung gegebene Antwort auf die Frage: Wem eigentlich verdankt sich diese „Kunst der Gesellschaft“? Wessen Kunst und welche Kunst wird gezeigt? Und das heißt auch: Welche Bildmedien? (9/x)
Von hinten angefangen: sehr viele Gemälde, auffallend viele Skulpturen, zwei Filme (plus zwei zeitgenössische Videos als Interventionen), einige wenige Zeitschriften und andere Drucksachen in Vitrinen, keine Zeichnung, keine Druckgrafik, keine Fotografie. (10/x)
Das mag konservatorische Gründe haben und wohl auch an der Sammlungsstruktur der Staatlichen Museen liegen. Grafik etwa ist das Territorium des Kupferstichkabinetts direkt nebenan. Dennoch schade, denn die Ausstellung ist dadurch einseitig und unnötig altmodisch. (11/x)
Doch zieht es noch etwas anderes nach sich: Diese „Kunst der Gesellschaft“ ist eine fast exklusiv männliche Angelegenheit. Ich mag mich verzählt haben: Ich komme auf 22 Künstlerinnen. Das ist nicht nichts. Aber aufs Ganze der Ausstellung gerechnet ist es doch fast nichts. (12/x)
Von zwei Ausnahmen (Renée Sintenis und Käthe Kollwitz) abgesehen, ist jede Künstlerin mit genau einem Werk vertreten. Im Ganzen sind es also nicht einmal dreißig Werke unter den hunderten, die hier ausgestellt werden – überschlägig weniger als 10%. (13/x)
Linda Nochlin hat vor einem halben Jahrhundert in einem bestens gealterten Essay halb ironisch, halb ernst gefragt, wieso es keine großen Künstlerinnen gegeben habe. Eine ihrer Antworten bleibt in der Nationalgalerie aktuell: Weil man sie nicht zeigt. (14/x)
Eine andere Antwort Nochlins war: Weil man sie gar nicht erst ins Kunstsystem einließ. Für die in der Ausstellung relevante Zeit von 1900 bis 1945 könnte aber auch die Fotografie ins Spiel kommen. Sie musste man nicht auf der den Männern vorbehaltenen Akademie lernen. (15/x)
Fotografieren hieß, wie Ute Eskildsen in einem so benannten, epochalen Katalog formulierte, teilnehmen – und zwar am Geschäft der bildenden Kunst, daran, das Bild einer Gesellschaft mit zu prägen, die Gegenwart bildnerisch zu deuten. (16/x)
Der von Künstlerinnen in der ersten Jahrhunderthälfte hieran geleistete Anteil wird in der Nationalgalerie in homöopathischen Dosen angedeutet. Ihre Bilder hängen gleichberechtigt zwischen denen der Kollegen, nur sind es eben herzlich wenige. (17/x)
Die Probe aufs Exempel ist sehr einfach: Bitte einfach einmal alle Werke innerhalb eines Saals, die von (männlichen) Künstlern stammen, gedanklich abhängen und wegräumen. Man sähe plötzlich fast immer weiße Wände und sehr viel von Mies’ Architektur. (18/x)
Eine Ausstellung, die sich auf – qua akademischer Ausbildung – tendenziell männlich kodierte Medien und Genre beschränkt, wird in diesem Sinn zwangsläufig auf ein einseitiges Ergebnis, auf ein ebenso schräges wie zuletzt langweiliges Gesellschaftsbild hinauslaufen. (19/x)
Warum also schaut die junge Frau in Lotte Lasersteins Gemälde so düster? Sie scheint zu wissen, was sich wortwörtlich hinter ihrem Rücken, in der Ausstellung, abspielt. An welchem (und wessen) Bild von Kunstgeschichte wird hier eigentlich weitergeschrieben? (20/20)

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