In seinem Nachruf auf Hermann Kinder schreibt Hilmar Klute in der @SZ, dass der Konstanzer Schriftsteller und Germanist bei seinen Studierenden sehr beliebt gewesen sei. Ganz aus meiner Sicht will ich in einem Thread schreiben, warum das stimmt. (1/x)
sueddeutsche.de/kultur/gestorb…
Als ich mich 1995 an der @UniKonstanz einschrieb, kannte ich Hermann Kinder schon als Autor des Buches „Fremd – daheim”. Fast verschwörerisch hatte mich eine Freundin, die von meinen Studienpläne wusste, gefragt: „Kennst du Kinder?” und mir dieses Buch geschenkt. (2/x)
Das Buch ist kein schriftstellerisches Hauptwerk, sondern versammelt Gelegenheitstexte – genau richtig, um sich auf eine Studium an der Universität hoch über dem Bodensee einzustimmen. Der darin formulierte Wunsch, diesen See ein einziges Mal ganz ohne Wasser … (3/x)
… zu sehen, leuchtete mir so sehr ein, dass er längst schon zu meinem eigenen geworden ist. Es gibt in diesem Buch auch Reproduktionen von Kinders außerordentlich charakteristischer Handschrift. Sie fiel mir auf und hat mich dann ein Studium lang begleitet. (4/x)
So viel war klar: Ich wollte so schnell wie möglich ein Seminar bei ihm belegen. Die sympathisch offene Organisation des Studiums in Konstanz machte das gleich im ersten Semester möglich: Konkrete und experimentelle Poesie. (5/x)
Im Lauf der Jahre folgten noch ich weiß nicht wie viele mehr, die wichtigsten aber lagen immer am Ende der Woche: freitags ab 14 Uhr in H306, gemeinsam mit Klaus Oettinger veranstaltet und lapidar benannt: Literarische Neuerscheinungen. (6/x)
Der Name war Programm: Gemeinsam gelesen und kritisch besprochen wurde, was gerade eben erschienen war. Handkes „Winterliche Reise“ wurde verrissen, Wisława Szymborska, die gerade den Literaturnobelpreis zugesprochen bekommen hatte, erging es kaum besser. (7/x)
Wichtig aber ist: Der lustvoll formulierte Verriss war das Register von Professor Oettinger. Hermann Kinder urteilte zwar nicht weniger entschieden, aber mit Zurückhaltung. Hier sprach ein Kollege über Kolleg:innen. Das führte zu einer anderen Form des Respekts. (8/x)
Noch wichtiger: Seine eigenen Bücher wurden in Konstanz nicht öffentlich vorgestellt, und schon gar nicht wurden sie im Seminar am Freitag Nachmittag besprochen. Die eigene Stadt und die eigene Universität waren ein Schutzraum für den Schriftsteller. (9/x)
Für umso größeres Aufsehen sorgte es, als Kinder dem Drängen von Oettinger nachgab und nach dem Erscheinen von „Um Leben und Tod” einer Diskussion seines neuen Buchs im Seminar zustimmte. Das sprach sich herum, an jenem Freitag war H306 vollkommen überfüllt. (10/x)
Aus meiner Sicht gehören zu Kinders wichtigsten Büchern sein Debüt „Der Schleiftrog” (1977, Neuausgabe 2007), „Du mußt nur die Laufrichtung ändern” (1978), „Vom Schweinemut der Zeit” (1980) und „Kina, Kina” (1988). Sie alle sind immer noch unbedingt lesenswert! (11/x)
Auch später kamen noch lesenswerte Texte hinzu, zum Beispiel „Himmelhohes Krähengeschrei” (2000). Dennoch ist richtig, was auch in den Nachrufen nicht verschwiegen wird: So ganz allmählich wurde die Stimme des Schriftstellers Hermann Kinder leiser. (12/x)
Das mag nun sonderbar klingen, aber hierin lag auch ein Grund für die wirklich große Beliebtheit des Dozenten. Im Seminar oder auch im persönlichen Gespräch machte Hermann Kinder kein Geheimnis daraus, dass er sich größeren literarischen Erfolg gewünscht hätte. (13/x)
War er mit seinen ersten Büchern ziemlich groß rausgekommen, so ebbte die Aufmerksamkeit seit den späten 1980er Jahren merklich ab. Der Literaturbetrieb liebt neue Stimmen, schon eingeführte haben es schwerer, sich dauerhaft zu behaupten. Das alles ist nichts Besonderes. (14/x)
Aber Kinder sprach mit uns unverstellt über Hoffnungen, Enttäuschungen und Misserfolge. An einer Universität, die auch seinerzeit schon von großem wissenschaftlichen Ehrgeiz angetrieben war (was mich stets auch begeisterte), war diese Haltung nicht oft zu hören. (15/x)
Wenn ich heute, mehr als zwei Jahrzehnte später, an meinen Lehrer Hermann Kinder denke, spüre ich noch immer, wie prägend seine Haltung nachdenklicher Zurückhaltung für meine akademische Sozialisation war. Ihm musste man nichts vormachen, er umgekehrt tat dies auch nicht. (16/x)
Was ich sagen will: Lehrer unterrichten nicht nur ihren Gegenstand, sondern immer auch eine Haltung. Hinter all dem „Schweinemut“, der Melancholie, steckte bei Kinder eine scharfsichtige Entschlossenheit, eine echte, vorbildhafte Kompromisslosigkeit. (17/x)
Jahre später, da hatte ich meine Magisterarbeit über literarische Erzählformen des Tableau vivant (mit Kinder als Zweitgutachter), längst geschrieben und mich schon als Doktorand in Berlin eingeschrieben, bat ich ihn um ein Autogramm. (18/x)
Das hätte ich in meiner Konstanzer Zeit nicht getan, denn die Stadt war ja eine Art Schutzraum für sein literarisches Leben. Genau besehen bat ich um viele Autogramme, in jedes seiner Bücher eines. Auf Besuch in Konstanz brachte ich eine große Tasche in sein Büro. (19/x)
„Sie haben ja wirklich alle!“ sagte er schmunzelnd, „ich werde ein wenig Zeit brauchen.” Erst auf dem Rückweg im Flieger von Zürich nach Berlin öffnete ich die Tasche wieder, sah die Bücher nach und nach durch und war sehr gerührt, bin es noch, werde es immer bleiben. (20/x)
Als meine Dissertation 2009 als Buch erschien, konnte ich endlich eine Widmung zurücksenden, ein Wort Aleida Assmanns aufgreifend „Für meinen heimlichen Lieblingsprofessor”. (Professor wurde er ja nie.) Er bedankte sich mit einer mehrseitigen handgeschriebenen Rezension. (21/x)
Im Brief stand zudem der Wunsch, dass ich sehr bald genau jene akademische Dauerstelle finden möge, die ich mir wünsche (schon damals prägte #IchbinHanna die universitäre Wirklichkeit). Dass dies geklappt hat, verdanke ich neben vielen anderen gewiss auch Hermann Kinder. (22/x)
Der Tod dieses freundschaftlichen Dozenten bewegt mich. In meine Traurigkeit mischt sich ein großes Maß an Dankbarkeit. Ich greife die Frage der Freundin auf: Kennen Sie Kinder? Wenn nicht, so lesen Sie doch seine Bücher. Hermann Kinder verdient viele Leser:innen! (23/23)

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