Ich gehöre zu denen, die nicht ganz so viele Probleme mit dem Begriff “Digitale Souveränität” haben. Ich finde einige der Gegenargumente sinnvoll, um daran die eigene Definition zu schärfen. Mit dem Wunsch um eine friedfertige und sachliche Debatte hier ein paar Gedanken dazu.
Ich nehme vor allem 3 Argumente wahr, warum der Begriff gar nicht verwendet werden sollte:

1) Begriffsunschärfe
2) Inhaltlich widersprüchliche Definitionen
3) Digitalnationalismus
Zu 1) Begriffsunschärfe: Es wird angeführt, dass unterschiedliche Personen oder Interessengruppen ganz unterschiedliche Dinge mit dem Begriff verbinden und ihn somit auch ganz unterschiedlich verwenden.
Das ist richtig. Das trifft aber auf Begriffe wie “Freiheit” und “Gemüseeintopf” auch zu.

Dass ein Begriff verschiedene Interpretationsebenen hat, ist für mich kein Grund, ihn nicht zu verwenden.
Jeder halbwegs seriöse Aufsatz stellt voran, was unter den zentralen verwendeten Begriffen im Kontext der vorliegenden Argumentation verstanden werden soll.

Ich finde den Hinweis, dass es verschiedene Auffassungen gibt, was darunter verstanden werden soll, durchaus valide.
Für mich folgt daraus aber eine konstruktive Aufforderung, deutlich zu machen, was in der jeweiligen Situation darunter verstanden wird und was nicht - und keine komplette Ablehnung des Begriffes.
In gewisser Weise tragen wir ja gerade auch alle zu einer Begriffsschärfung bei, indem wir uns hier darüber austauschen, was wir jeweils darunter verstehen und welche Aspekte wir eventuell problematisch finden oder nicht.
Ich finde auch den Hinweis richtig, dass es immer wieder irgendwelche Buzzwords gibt, auf die alle abfahren, obwohl nicht ganz klar ist, was darunter verstanden wird und obwohl viele (insbesondere in der Politik) diese nur verwenden, um digital und fancy zu klingen.
Dass immer wieder Begriffe zu Projektionsflächen werden ist normal. Das sind zyklische Bewegungen im Sprachgebrauch. Das ist aus meiner Sicht kein Grund, diese Begriffe IMMER von vornherein komplett abzulehnen sondern klarere Definitionen einzufordern oder diese selbst zu prägen.
Es gibt hier auch Unterschiede finde ich. “Cyber”, “Smart” und “Resilienz” befinden sich meiner Meinung nach alle auf unterschiedlichen Punkten des Unsinnigkeits-Spektrums.
Zu 2) Inhaltlich widersprüchliche Definitionen: Oft heißt es, dass ein Verständnis von “Digitaler Souveränität” als “nationaler Souveränität” (Staat bestimmt allein, was gemacht wird) einer “individuellen Souveränität” (Einzelperson entscheidet, was gemacht wird) widerspricht.
Dieser Widerspruch kann durchaus entstehen, das ist richtig. Das ist aber wieder abhängig davon, wie man den Begriff versteht und verwendet. Der Widerspruch ist aus meiner Sicht nicht zwingend.
In der Open Source Community zum Beispiel wird aus meiner Wahrnehmung unter “Digitaler Souveränität” zumeist die individuelle Souveränität im Sinne der 4 Freiheiten verstanden, dass das Individuum seine Software und seine Hardware selbstbestimmt kontrollieren kann.
(4 Free and Open Source Software Freiheiten: Ich kann die Software frei verwenden, verstehen, verändern und verbreiten.)
Ich sehe dieses Verständnis von “digitaler Souveränität” durchaus auch in den Wirtschafts- und Politik-Bereich überschwappen. Denn es ist sowohl für Einzelpersonen als auch für Unternehmen und Politik wichtig, nicht von Monopolisten abhängig zu sein...
...die sich nicht an Standards halten, Daten abschnorcheln und niemanden in den Code schauen lassen, wo sonst was für Backdoors oder Sicherheitslücken schlummern können.
Ich möchte als Einzelperson die Freiheit haben, meine Software frei verwenden und überprüfen zu können. Als Staat möchte ich aber auch gerne nicht von Microsoft abhängig sein oder bei kritischer Infrastruktur in der Lage sein, Standards festlegen und diese überprüfen zu können.
Und zwar egal, ob diese kritische Infrastruktur aus China, den USA, Frankreich oder Deutschland eingekauft ist.

Und das bringt uns zu 3) Digitalnationalismus. Ich habe den Eindruck, hier werden die Diskussionen mit dem höchsten Blutdruck geführt.
Vorab geschickt: Ich finde, dass das Konzept von Nationalstaaten grundsätzlich keine super Idee war und viel Leid und Unglück verursacht hat (Kolonialismus, Völkermord, Ausbeutung) und auch heute noch Probleme schafft, wo keine sein müssten.
Es ist aber in diesem Moment auch nicht sinnvoll, so zu tun, als hätten wir keine Nationalstaaten.
Ich verstehe “Digitale Souveränität” im “nationalen” Sinne so: Ein Staat (oder z.B. die EU) möchte nicht von einzelnen Monopolisten (aus dem Ausland) abhängig sein, weil Lock-In-Effekte und technische und finanzielle Abhängigkeiten entstehen.
Ein Staat (oder z.B. die EU) möchte Standards setzen (zum Beispiel um die Bürger und ihre Rechte zu schützen) und diese auch durchsetzen können – dies geht logischerweise nur auf dem eigenen Staatsgebiet.
Mir ist schon klar, dass gesetzliche Kleinstaaterei im Internet nur mäßig Sinn ergibt.
Gleichzeitig gibt es Dinge wie das Marktortprinzip. Und ich persönlich bin z.B. froh und dankbar für die DSGVO oder die Europäische Wettbewerbsbehörde, die Monopolisten auf die Finger klopfen und empfindliche Strafen bei Verstößen gegen Nutzerrechte verhängen können.
Das ginge ja alles nicht, wenn wir nicht sagen würden “In der EU gelten (z.B. hohe Datenschutz-)Regeln und wer hier unternehmerisch tätig ist und hier seine Kunden sucht, muss sich dran halten.”
Bei IT-Sicherheit sehe ich es ähnlich: “Digitale Souveränität” heißt für mich nicht “Wir verbannen kategorisch alle chinesischen oder US-amerikanischen Produkte vom Markt, Deutsche kauft nur bei Deutschen” oder so ein Quatsch.
Es kann aber heißen: Wir setzen bestimmte Standards und die Unternehmen, die hier z.B. 5G verbauen wollen, müssen sich daran halten, Schnittstellen und Code offenlegen und überprüfbar machen und Strafen akzeptieren, wenn sie dagegen verstoßen.
Da ist es dann egal, wo das Unternehmen seinen Sitz hat, alle müssen sich an diese Standards halten.

Für mich bedeutet “Digitale Souveränität” im nationalen Sinne also Standards setzen und durchsetzen können.
Und auch: Alternativen bei Anbietern zu haben und nicht von einzelnen Monopolisten abhängig sein.

Alternativen bei Anbietern haben führt uns zum Thema Wirtschaftsförderung:
Ich finde Wirtschaftsförderung nicht grundsätzlich verwerflich. Sie sollte nicht Gemeinwohlinteressen widersprechen, auf Kosten von Individuen oder ihren Rechten gehen oder das Ergebnis von Korruption sein.
Ich finde es verständlich, dass ein Staat sagt, wir wollen nicht in allem von ausländischen Monopolisten abhängig sein, die nicht unseren Standards entsprechen, weil wir selbst keine Alternativen für unsere Unternehmen anbieten können.
Ergo wollen wir diese Alternativen selbst entwickeln und fördern.

Aus diesem Wunsch heraus verstehe ich auch z.B. das Projekt GAIA-X.
Aus der Sicht als Politikerin oder KMU finde ich die Vorstellung attraktiver, meinen Kram nicht bei einem US-amerikanischem Anbieter hosten zu müssen, sondern auf einer Infrastruktur innerhalb der EU, die hohen Standards entspricht.
Ob GAIA-X technisch gelingen wird, was die Beteiligung der US-amerikanischen Hyperscaler an dem Projekt bedeutet etc. steht auf einem anderen Blatt und ist eine andere Diskussion.
Abschließend: Viele unterschiedliche Leute verstehen viele unterschiedliche Dinge unter “Digitaler Souveränität” (unter unter “Freiheit” und “Gemüseeintopf”). Das gilt sowohl in der Zivilgesellschaft als auch in der Politik oder der Wirtschaft.
Für mich resultiert daraus der Auftrag, uns auszutauschen, darüber zu reflektieren und deutlich zu machen, was wir darunter verstehen wollen und was nicht und warum nicht.
Sehr viele Menschen in Politik, Wirtschaft und Verwaltung verwenden den Begriff so oder so, unabhängig davon was wir als digitale Zivilgesellschaft davon halten oder diskutieren, die meisten kriegen sicher nicht mal unsere Diskussionen darüber mit.
Vor diesem Hintergrund finde ich persönlich eine Nicht-Verwendung oder Ablehnung des Begriffes "Digitale Souveränität" nicht sinnvoll, da man den Diskurs auch nicht prägen kann, wenn man nicht daran teilnimmt.
Ich finde es total ok, wenn Leute sagen, dass sie den Begriff für sich nicht verwenden wollen. Ich persönlich sehe es halt anders.

Ich freue mich auf weitergehende konstruktive Diskussionen zum Thema, ich bin sicher auch noch nicht am Ende meiner Überlegungen angelangt. /end

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