Am 21. Februar 1931 erblickt ein kleiner, propperer Junge das Licht der Welt in Mönchengladbach. Er wird auf den Namen Dietrich Franz getauft. Dieser kleine Junge wird einmal mein Vater werden. Klar, das weiß er da noch nicht. Und bis dahin wird auch noch viel Zeit vergehen 1/25
Denn erstmal wird er im Sommer 1933 mit seiner Mutter Deutschland verlassen müssen, weil sein Vater, mein Opa Theo Hespers, sich mit den Nazis angelegt hat. Theo Hespers, geb. am 12.12.1903 war schon weit vor 1933 kein Freund der Nazis. Er kritisierte die NSDAP, der auch 2/25
einige seiner Freunde und Bekannten in Mönchengladbach angehörten. Als "Belohnung" für sein antifaschistes Engagement gab's was auf die Nase, zumindest erzählten das später seine Schwestern. Er versuchte mit politischen Ämtern gegen das Aufkommen der NSDAP anzukämpfen, 3/25
ließ sich in den Stadtrat von Mönchengladbach wählen. Auch im März 1933 trat er zur Stadtverordneten Wahl an. Weil Zentrumspartei und SPD ihm nicht entschieden genug den Nazis entgegentraten, entschied er sich für eine KPD-nahe Liste. Spätestens das führte dann dazu, 4/25
dass die Gestapo ihn als einen der ersten auf dem Zettel hatte als es darum ging, Oppositionelle brutal zu verfolgen. Er floh in nach Holland, blieb aber in der Nähe der Grenze, um den kommunistischen Widerstand - viel anderen gab es zu dem Zeitpunkt nicht - zu unterstützen 5/25
Mein Vater wächst ab da in den Niederlanden auf. Aus Dietrich wird Dieter, weil das weniger deutsch klingt. Sein Vater geht voll in seiner politischen Arbeit auf. Seine Mutter, meine Oma, ist alleine mit einem Kleinkind, ohne ihre geliebte Familie und hatte permanent Heimweh 6/25
Drei Mal zieht die Familie innerhalb der Niederlande um. Zuerst weg aus dem Grenzgebiet, weil die Gestapo Spitzel auf meinen Opa angesetzt hat, um ihn über die Grenze zu überführen. Immer wieder verliert mein Vater dadurch gerade erst gewonnene Freunde. 7/25
Am 10. Mai 1940 marschieren die Nazis in die bis dahin neutralen Niederlande, Belgien und Luxemburg, um Frankreich anzugreifen. Die Familie flieht unter Bombenhagel. Mein Opa versucht, nach England zu kommen, verpasst aber das zugesicherte Schiff. 8/25
Er allein hätte ein anderes nehmen können. Aber seine Familie zurückzulassen kommt für ihn nicht in Frage. Sie tauchen in Belgien unter. Die letzte Station ab 1941 ist ein flämisch-nationalistisches Kinderheim. Mein Opa wird dort unter falschem Namen Hausmeister, 9/25
meine Oma Köchin, mein Vater, er heißt inzwischen Dirk, gehört fortan zu den Waisenjungs. Was er von dort erzählt hat mich als Kind fasziniert. Haferbrei "met Strontjes" gab es dort zu essen. Strontjes klang für mich wie Schokostreusel, waren aber Ratten- und Mäuseköttel. 10/25
Weil die Jungs im Waisenhaus lieber durch die Gegend tobten und spielten, statt den Hafer ordentlich zu verlesen, der für das Frühstück gemahlen wurde. Am 10. Februar 1942 - also ziemlich genau vor 80 Jahren - wird mein Opa in Antwerpen verhaftet. 11/25
Wegen Devisenfälschung. Jemand hat verraten, dass er unter falschem Namen in Belgien gemeldet ist. Das heißt, er hat sich Lebensmittelmarken erschlichen, die ihm nicht zustehen. Auch meine Oma wird verhaftet. Mein Vater bleibt allein zurück im Waisenhaus. 12/25
Beide Großeltern werden nach Deutschland überstellt, denn schnell ist klar, dass mein Opa ein "Staatsfeind" ist. Sein Name steht auf einer Liste der meistgesuchten Feinde des NS-Regimes. Die Liste wird bei einem abgeschossenen deutschen Piloten gefunden. 13/25
Weder meine Oma noch mein Opa wissen, was aus ihrem Sohn geworden ist. Mein Vater weiß nicht, was mit seinen Eltern passiert ist, oder wo sie sind. Im Sommer 1942 wird er zurück nach Deutschland geholt. Ein Land, das ihm völlig fremd ist. 14/25
Er spricht besser Niederländisch und Flämisch als Deutsch. Er ist inzwischen 11 Jahre alt. In der Hoffnung, dass sich das positiv auf die Haftbedingungen meines Opas auswirkt, wird mein Vater in die HJ geschickt. Nur noch ein einziges Mal wird er seinen Vater wiedersehen. 15/25
Er darf ihn im Gestapo-Gefängnis in Berlin besuchen. Dort trifft er einen abgemagerten Mann mit eisgrauen Haaren, der kaum noch aussieht wie der Vater, der 1,5 Jahre zuvor plötzlich verschwand. Die niederländische Begrüßung wird jäh unterbrochen. 16/25
"In Deutschland wird Deutsch gesprochen!" schnarrt es. Mein Vater bringt ein Poesie-Album mit, damit sein Vater ihm da etwas reinschreibt. Wenn er von den Sprüchen erzählt hat, kamen ihm später immer die Tränen. Er hat sie auswendig gelernt. 17/25
Einen Monat später, im September 1943, wird mein Vater erfahren, dass man seinen Vater in Berlin ermordet hat. Ein Jahr später wird er bei einem Bombenangriff auf Deutschland verschüttet. Wieder wird er fliehen, diesmal mit seiner Mutter nach Arken an der Elbe. 18/25
Dort wird er das Ende des NS-Regimes, das Ende des Kriegs erleben. Auf Umwegen gelangt er zurück nach Mönchengladbach. Warum ich das erzähle? Weil es wieder und wieder heißt, wir müssten die Vergangenheit endlich ruhen lassen. 19/25
Nur:Diese Vergangenheit ist eben nicht vergangen. Sie ist für viele Gegenwart oder lange Gegenwart gewesen. Denn mein Vater ist am 31. Januar 2018 gestorben. Auch für mich bleibt seine Vergangenheit gegenwärtig. Ich bin mit einem schwerst traumatisierten Vater aufgewachsen 20/25
Einem Vater, der in einem Land voller ehemaliger NS-Anhänger und -Funktionäre nie groß Anerkennung für das erlebt hat, was ihm wiederfahren ist. Was ihm angetan wurde. Und er ist damit nicht alleine. Viele Opfergruppen haben Jahrzehnte um Anerkennung gekämpft. 21/25
Einige tun es bis heute. Täter:innen und ihre Nachfahren, ihre Familienangehörigen müssen sich bis heute weit weniger mit der eigenen Vergangenheit auseinandersetzen als diejenigen, die Opfer von Verfolgung und Vernichtung wurden. Das geht über Generationen. 22/25
Es geht dabei nicht um Schuld. Aber es geht dabei sehr wohl um Verantwortung. Auch in Bezug auf Erinnerungskulturen. Denn es gibt nicht die eine Erzählung des NS und seiner Folgen. Das läuft nicht linear. Aber es läuft durch Generationen. 23/25
Jede:r kann helfen bei der Auseinandersetzung mit dieser Geschichte. Sei es in Bezug auf Rassismus, Antisemitismus, Ableismus, Antiziganismus. Der kritische Blick in die eigene Familiengeschichte kann helfen. Aber auch über den Tellerrand. NS-Geschichte ist Europageschichte.24/25
Mein Vater hätte sich übrigens sehr amüsiert über das @zdfmagazin mit @janboehm über #Erinnerungskultur. Ich sollte vor Jahren einen Kontakt herstellen, weil er unbedingt in die Sendung wollte 😅 Happy Birthday, Papa. 25/25

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Apr 9, 2020
Bei allem Verständnis für @c_drosten als Wissenschaftler, in großem Umfang Daten für die Forschung zu bekommen, aber die gestrige Ausgabe des "Corona Update Podcast" von @NDRinfo wirft bei mir große Fragen auf, die diese Folge mMn unbeantwortet lässt. Nämlich die Frage, 1/6
was genau ich unter Pseudonymisierung verstehen soll. Und das, obwohl der Physiker Dirk Brockmann vom @rki_de noch darauf hinweist, dass es wichtig ist, die Bevölkerung darüber aufzuklären. Denn er sagt auch: Es gibt Möglichkeiten, die Daten wieder zusammenzuführen. 2/6
Und genau da liegt der Knackpunkt, finde ich. Wer macht das? Wo liegen diese Daten? Bei einem Regierungsunternehmen? Fänd ich schwierig. Weil das - bei allem ohnehin vorhandenen Risiko - nur gut geht, solange wir in einer Demokratie leben. Bei einem Startup oder Unternehmen? 3/6
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