1/ Der folgende Thread ist ein Versuch, euch aus meiner sowjetisch-russischsprachig-ukrainisch-jüdischen Perspektive Russland zu erklären(TM). Ich habe die Weisheit nicht mit Löffeln gefressen. Bitte ergänzt und korrigiert!
2/ Wir sehen derzeit viele Russen auf den Straßen russischer Städte in heldenhaftem Protest gegen den Krieg. Navalnyj sagte "Wenn wir mit unseren Körpern deren Gefängnisse verstopfen müssen, dann machen wir das eben".
3/ Warum gibt es diese starke Bewegung und gleichzeitig so viele Russen, die Putins Krieg unterstützen? So viele, die sogar ihre Autos jetzt mit dem "Z" dekorieren, um ihre Unterstützung zu bekunden? Was bewegt diese Menschen?
4/ Putin hat diesen Krieg acht Jahre lang medial vorbereitet. Hauptsächlich über das Fernsehen, woher die meisten Russen noch immer ausschließlich ihre Nachrichten beziehen.
5/ Acht Jahre lang wurden Kiewer entmenschlicht, es wurde ein Genozid an russischsprachiger Bevölkerung herbeigedichtet und eine faschistische Regierung. Warum faschistisch? Weil das bei Russen ein klares und emotional eindeutiges Feindbild kodiert. Man ist gegen Faschismus.
6/ Das war Opa schon. Das ist absolut klar. Dessen bedient sich jetzt Putin, dessen eigener Staatsapparat zunehmend faschistische Züge trägt.
7/ Aber diese Propaganda fällt auch auf fruchtbaren Boden. Ihr müsst betrachten: eigentlich seit dem 13. Jahrhundert lebten sämtliche Generationen in Russland in Knechtschaft. Sie wurden in Knechtschaft geboren und starben in Knechtschaft.
8/ Sei es das zaristische Regime mit der Leibeigenschaft oder der Stalinismus. Persönliche Würde war einfach kein Ding. Meine Mutter erzählte mir gestern: "Ich habe, als ich nach Deutschland gekommen bin, fünf Jahre gebraucht, um zum ersten Mal sowas wie Selbstwert zu fühlen.
9/ Davor hatte ich keine Vorstellung, was das ist." Was bedeutet das? In der Sowjetunion war der Mensch staub. Er wurde als Staub geboren. Im Geburtshaus der Mutter entnommen und fünf mal am Tag zum Füttern gebracht. Mütter lagen in 20-Bett-Zimmern.
10/ (Diese Erfahrung ist aus einem konkreten Kiewer Geburtshaus, falls jemand andere hat, bitte drunter schreiben.)
11/ Menschen wurden behandelt wie Staub. Selbst in Geschäften und auf dem Markt meist unfreundlich. Sprichwort: "Der sowjetische Dienstleistungssektor ist unaufdringlich. Wenn Sie nicht wollen, können Sie zur Hölle fahren".
12/ Ich habe die Nachwehen dessen noch mitbekommen, als die letzten sowjetisch eingestellten Verkäufer mich angeschnauzt haben, wenn ich zu lange Blumen betrachtet habe. Sie haben sich im freien Wettbewerb irgendwann nicht mehr gehalten. (Seltsam.)
13/ Wo Menschen Staub waren, hielten sie sich schon immer an etwas, das größer war, als sie selbst. Die Idee Gottes. Die Idee des Imperiums. Die schiere Größe des Landes und seines Geistes, wo das eigene Leben klein und unbedeutend war. Darum war Glaube ein enorm wichtiges Ding.
14/ Dann kam die Revolution. Der Glaube wurde effektiv verboten. An seine Stelle trat der Glaube an Kommunismus. Eine Art Ersatzreligion. Manche folgten dem mit vollem Eifer. Manche spielten einfach mit ("Wir tun so, als ob wir arbeiten und sie tun so, als ob sie uns bezahlen.").
15/ Es war dennoch immer etwas, das größer war, als die Menschen selbst. Sie waren machtlos und es gab keine Kultur um eine individuelle Würde. Selbst in meiner Dissidentenfamilie musste man anerkennen, so schlecht die Dinge auch waren: unsere Wissenschaftler waren groß.
16/ Unsere Leute haben einen Menschen ins All gebracht. Unsere Kultur war voll von schönen Ritualen mit Blumen und allem.
Und dann kamen die 90er. Das System bracht zusammen zugunsten "westlicher Werte". Und wie kamen diese Werte in Russland an? Erstmal als Raubbau am Land.
17/ Alles, was vorher staatlich war, wurde privatisiert. Und privatisiert hieß: zusammengeklaut. Menschen brachten unfassbare Bestechungssummen in die Kreditabteilungen der Banken und kauften alles, was bei drei nicht auf den Bäumen war.
18/ Einige (u.A. Putins Klüngel) wurden zu Milliardären. Andere blieben mit nichts zurück. Plötzlich war keine Gewissheit mehr im nächsten Tag da. Teilweise fielen Menschen buchstäblich in Ohnmacht vor Hunger.
19/ In meiner Familie gibt es eine ganze Sage darum, wie meine Oma einst auf dem Markt drei Pfirsiche ergatterte und ich sie mir tragisch über den zweijährigen Bauch verschmierte, statt ihre wertvollen Vitamine zu essen.
20/ Menschen, die nicht gut lebten, aber immerhin absolut sicher waren, wo sie in einem Jahr sein würden, waren plötzlich bar jeder Orientierung. Es war verwirrend und entmutigend und demütigend. Der Wohlstand des Westens war wenigen vorbehalten.
21/ Für die meisten war es ein tatsächlicher Zusammenbruch. Und Menschen, die ihren Wert daraus gezogen hatten, was größer war, als sie selbst, hatten plötzlich nichts mehr.
Von hier verstehen wir, warum die Kirche so schnell und so mächtig zurück kehrte.
22/ Warum Stalin neuerdings wieder so einen guten Ruf genießt. Warum Putin mit seinen imperialistischen Phantasien so gut bei den Leuten ankommt. Warum Menschen mitgehen, wenn er sagt: "Der Westen ist schwach und dekadent und wir holen uns jetzt unsere Völker nach Hause."
23/ Denn die wahre Tragik ist: das Land, das die Russen für ihren Bruder halten, hat es geschafft aus dieser Spirale von Knechtschaft auszubrechen. Die Ukrainer haben ihren Selbstwert wieder gefunden. Ihre Würde.
24/ Sie haben sich auf diesen westlichen Weg gemacht, in dem sie selbst bestimmen wollten, wer ihr Präsident ist und was er tut. ("Er ist ein korrupter Präsident, aber er ist UNSER korrupter Präsident").
25/ Sie wollten nicht in der Hauptstadt anrufen, wenn die Mülltonne im Hof kaputt gegangen ist, sondern haben sich selbst organisiert. Das war auf dem Maidan schon sehr stark zu sehen.
26/ Und natürlich hängt das auch damit zusammen, dass die Ukraine - gerade im Westen - historisch aus einer vollkommen anderen Tradition kommt. Das Kosakentum war schon immer selbstbestimmter.
27/ Aber es ändert nichts daran, dass die Ukraine ein lebendiges Beispiel dafür war, dass es auch anders gehen kann. Dass auch Slaven eine Demokratie haben können. Und das ist Putin gefährlich.
Die Menschen folgen ihm nicht, weil sie selbst keine Demokratie wollen.
28/ Sie folgen ihm, weil sie gar keine Vorstellung haben, was das ist. Tragisch ist die Situation für die Ukraine, aber auch für jene Russen, die das alles sehen, verstehen und trotzdem weitestgehend machtlos sind und zu tausenden auf den Protesten verhaftet werden.
29/ Ich hoffe, das hat euch einen kleinen Einblick gegeben. Gern ergänzen und mit Quellen bereichern. Und bitte pöbelt keine random Russen an.
Ich habe mir viele viele Analysen angehört. Von Russen, Ukrainern und aus dem Westen. Sollte Putin NICHT von innen gestürzt werden (was meine Hoffnung bleibt) kristallisiert für mich sich im Moment folgender Weg aus dem Konflikt heraus. THREAD.
In Verhandlungen kann ein Waffenstillstandsabkommen erreicht werden. Russland zieht sich hinter die Grenze der Regionen Luhansk, Donezk und der Krim zurück, ohne dass die Ukraine diese Territorien als russisch oder unabhängig anerkennt. Aber sie zieht ihr Militär daraus ab.
Putin kann zuhause verkünden, dass die Mission erfolgreich war: er habe alle militärischen Basen in der Ukraine handlungsunfähig gemacht und seine Armee beschützt jetzt die Russen im Osten. Damit ist erstmal Ruhe im Karton.
Sondervermögen für BW schön und gut. Wo ist Sondervermögen für die ärmsten Menschen, damit sie nicht die Last der Sanktionen tragen?
Es werden immernoch Coronahilfen ausgezahlt. Dabei werden Maßnahmen abgebaut. Was mit Hilfen für Betriebe, die von Handel mit Russland abhängen?
Ich sehe viel breite Diskussion über Entwicklung der Bundeswehr. Wenig darüber. Das wird Leute doch wieder in den Populismus der AfD treiben, die ihre Propaganda genau darauf aufbauen wird.
Sanktionen sind wichtig und nötig. Ja, sie sind der Preis der Freiheit. Aber dieser Preis darf nicht auf die Ärmsten abgewälzt werden. Die soziale Frage ist untrennbar mit der Verteidigung der Demokratie verbunden.
Das russische Außenministerium hat eine sichere Passage ausgewiesen, über die Zivilisten Kiew verlassen können und fordert sie auf, das zu tun. (Quelle russisch, wird hier nicht verlinkt)
Das ist nicht gut!
Ich wäre dankbar, wenn jemand mit Ahnung das hier nochmal einordnen würde.
Die positivste Interpretation: es ist psychologische Kriegsführung. Man will die Verteidiger der Stadt entmutigen und vor allem die Viertelselbstverteidigung aus der Stadt locken.
Negativste Interpretation: das ist das Vorspiel eines großflächigen Bombardements.
In seiner Erklärung der Angriffe hat Putin zwischen vielen widerlichen Lügen unwillkürlich einen wahren Satz gesagt: "Russland kann sich nicht sicher fühlen, sich nicht entwickeln und nicht existieren, wenn vom Gebiet der modernen Ukraine eine ständige Bedrohung ausgeht." (1/4)
Der Konflikt hat 2014 angefangen mit einer erfolgreichen demokratischen Revolution in der Ukraine. Das ist, was Putin fürchtet: dass diese Idee der Demokratie auch in Russland Einzug hält und seine Kleptokratie beendet. (2/4)
Er muss die Ukraine ruinieren, damit es kein positives Beispiel einer demokratischen Revoultion gibt. Darum wird er auch nicht bei der Ukraine halt machen. Er führt seinen Kampf nicht nur für die Wiederherstellung eines russischen Imperiums. (3/4)
Ich wurde heute paar mal gefragt, warum ich meine Familie nicht schon nach Deutschland geholt habe. Dazu möchte ich euch folgende ganz praktische Frage stellen: einige aus meiner Familie sind schwer krank. Brauchen Medikamente. Medizinische Versorgung. (1/4)
Wisst ihr, wie teuer medizinische Versorgung ist, wenn man nicht ktankenversichert ist? Angenommen, man bekäme Geld für 30 Flugtickets zusammen. Angekommen, man fände irgendwie, beengt, Wohnraum. Was dann? (2/4)
Jetzt ist es ohnehin zu spät. Ich bringe das hier auf, um darauf hinzuweisen (abgesehen davon wie völlig irre die Frage ist), dass sehr viele der 40 Millionen Menschen ihre Heimat nicht verlassen KÖNNEN, selbst wenn sie wollten (3/4)
So viele wollen "zurück zur Normalität".
👏 Die Herstellung des Zustands unmittelbar vor der Katastrophe führt unweigerlich in die nächste Katastrophe. 👏
Die Interpretationen wieder!
Natürlich will ich ein Ende der Einschränkungen und so weiter. Aber vor der Pandemie rasten wir in eine Klimalrise, verteilten Ressourcen hochgradig ungerecht, rotteten diverse Arten aus, die unser Ökosystem braucht...
Das alte "normal" war halt vielleicht einfach nicht gut. Nicht haltbar. Wir brauchen Veränderung in der Art wie wir wirtschaften. Wie wir Ressourcen und politische Verantwortung verteilen.