Thread by @bastianoenrico

Ich muss etwas Längeres loswerden über eine Ignoranz, die mich in diesen schrecklichen Tagen in Rage bringt wie nie zuvor: die vieler Menschen in Deutschland gegenüber den Nachbarstaaten in Mittel- und Osteuropa, von 🇨🇿 bis 🇪🇪, von 🇵🇱 bis 🇷🇴, von 🇲🇰 bis🇺🇦. 1/ 🧵
#UkraineKrieg

Diese Ignoranz herrscht nicht nur in Deutschland vor, sondern auch in anderen seit 1945 ff. als „westlich“ verstandenen Ländern: von Italien, meine zweite Heimat, würde ich sagen, dass sie dort noch verbreiteter ist. Das macht die deutsche Ignoranz aber nicht besser. 2/

Mir schlägt diese Ignoranz auch aus persönlichen Gründen stark auf den Magen. Wer mich kennt, weiß, dass ich als Enkel sudetendeutscher Familien Wurzeln im heute tschechischen Mährisch-Schlesien habe. 3/

Dass ich sechs Semester Bohemistik studiert und an der Uni Regensburg das Bohemicum abgeschlossen habe, das mich tschechische Sprache, Kultur und Geschichte auf das Wunderbarste gelehrt hat. 4/

Zurück zum Problem: Die Perspektive zu den östlichen Nachbarn ist eine, die – mit löblichen Ausnahmen – in weiten Teilen der deutschen Öffentlichkeit seit Jahrzehnten sträflich vernachlässigt wird. 5/

Viel lieber überspringt man diese Länder und blickt direkt nach Russland, das viele Menschen mit oberflächlicher Romantisierung („die russische Seele“, „der russische Bär“) bedenken. Andere, gerade deutsche Linke, mit einer verklärenden Brille auf die Sowjet-Vergangenheit. 6/

Das Überspringen der Länder zwischen Deutschland und Russland mündet dann oft in einer Gleichsetzung: Sowjetunion = Russland. Eine zutiefst ignorante Gleichsetzung ist das, die einfach unter den Tisch kehrt, dass zur Sowjetunion 14 weitere heute unabhängige Staaten gehörten. 7/

Diese Gleichsetzung hat dramatische Folgen: Sie lässt die etwa vergessen, dass Wehrmacht und SS im Zweiten Weltkrieg die wohl grausamsten Verheerungen auf sowjetischem Gebiet im Baltikum, in Belarus und der Ukraine anrichteten. 8/

Was wiederum dazu führte, dass Gegner:innen von Waffenlieferungen an die Ukraine diese bis Ende Februar monatelang mit dem Argument ablehnten, es sei ja angesichts der deutschen Geschichte wohl unerträglich, dass mit deutschen Waffen auf russische Soldaten geschossen wird. 9/

Was ukrainischen Soldaten geschieht, deren Vorfahren mindestens genauso unter deutschen Verbrechen gelitten haben, spielt in dieser Argumentation keine Rolle. 10/

Diese Ignoranz gegenüber Mittel- und Osteuropa bemerkt man auch daran, dass viel zu viele hierzulande das wohl häufigste Argument der Putinfreund:innen und Putinverständnisvollen als valide hinnehmen: das mit der Nato-Osterweiterung. 11/

Von der Nato-Osterweiterung, so geht das Argument, habe sich Putin so schrecklich bedroht gefühlt, dass er ja reagieren musste. Was in diesem Argument nie vorkommt, ist die Sichtweise der Länder Mittel- und Osteuropas, die der Nato beitraten. 12/

Diese Länder sprachen sich ab den 1990ern – mit demokratisch legitimierten Parlamentsmehrheiten (und teilweise sogar mit direktdemokratischen Abstimmungen) SELBST für den Beitritt aus. Bis heute ist die Zustimmung zur Nato-Mitgliedschaft in diesen Staaten überwältigend groß. 13/

Wer verstehen will, warum es diese Mehrheiten pro Nato gab und gibt, sollte sich bemühen, zu verstehen, was Jahrzehnte kommunistischer Gewaltherrschaft und politisch-militärischer Kontrolle aus Moskau für Menschen in 🇵🇱, 🇨🇿, im Baltikum oder der Ukraine bedeutet haben. 14/

Kurz gesagt: Es führt eine direkte Linie von der Niederschlagung des ungarischen Volksaufstands 1956, des Prager Frühlings 1968, von der Verhängung des Kriegsrechts in Polen 1981 zur Nato-Mitgliedschaft. 15/

@etabery, der Chefredakteur des tschechischen Magazins @RESPEKT_CZ, hat in seinem Leitartikel (unter dem „Práva tvář Adolfa Putina“, zu Deutsch „Das wahre Gesicht des Adolf Putin“) zur aktuellen Ausgabe Folgendes geschrieben: 16/

Man müsse sich in Tschechien wohl erneut bei Václav Havel und anderen Politikern der Nachwende-Jahre dafür bedanken, dass sie das „kurz geöffnete historische Fenster“ genutzt hätten, um Tschechien in die Nato und die EU zu führen. /17

(Quelle: respekt.cz/podcasty/edito…)

In 🇨🇿 hat am verg. Dienstag ein Benefizkonzert für die Ukraine stattgefunden. Eines der eindrücklichsten Momente: Als Sänger und Filmmusikkomponist Michal Hrůza den in Tschechien legendären Song „Bratříčku, zavírej vrátka“ (zu Deutsch „Brüderchen, mach die Tür zu“) sang. /18

Den Song schrieb Liedermacher Karel Kryl in der Nacht zum 21. August 1968, als Panzer der Sowjetunion und anderer Warschauer-Pakt-Staaten die Tschechoslowakei überrollten und die hoffnungsvolle Demokratisierung des Prager Frühlings buchstäblich zerschossen und zermalmten. 19/

Es folgte eine Periode, die die von den Reformern um Alexander Dubček gesäuberte Spitze der KPČ zynisch als „normalizace“ bezeichnete, als „Normalisierung“: eine Rückkehr zur blanken kommunistischen Diktatur. Zu einer Tschechoslowakei unter der unerbittlichen Fuchtel Moskaus. 20/

Der russische Überfall auf die Ukraine rührt bei vielen Menschen am kollektiven Trauma des 21. August 1968 – das viele selbsternannte deutsche „Russlandexperten“ entweder ignorieren oder von dem sie nicht den Hauch einer Ahnung haben. 21/

Zurück zum Benefizkonzert in Prag am vergangenen Dienstag: Dort haben mehrere Künstler:innen die Parallele von der Ukraine heute zum August 1968 in der ČSSR explizit gezogen, nicht nur Hrůza mit dem Song Karel Kryls. 22/

(Quelle: deutsch.radio.cz/von-rock-bis-k…)

Hier ein Audio-Beitrag von „Radio Prag“ zum Konzert, inklusive Konzertmitschnitt:

deutsch.radio.cz/tschechische-r…

23/

Hier „Brátříčku, zavírej vrátka“, in der Originalfassung von Karel Kryl, von ihm gesungen, 1969, nach dem Gang ins Exil.

By the way: Wenn jemand einen Beleg dafür braucht, wie schön die tschechische Sprache klingt: Dieser Song liefert ihn. 24/END

P.S.: Ach, und hier noch ein Nachruf auf Karel Kryl, 1994 in der „Zeit“ erschienen, geschrieben von Ota Filip (vermutlich im digitalisierten Text falsch als „Filid“ übertragen). Kryl starb leider schon 50-jährig.

zeit.de/1994/12/der-he…

Wer selbst mehr erfahren will über Mittel- und Osteuropa, diese wärmsten #ff-Tipps:
@AliceBota
@kafkadesk
@nexta_tv

speziell zu 🇨🇿:
der fantastische Autor @jaroslavrudis
@RadioPrag
@Lange_ARD_Prag