Ich kann der Stellungnahme des Deutschen #Ethikrat|s zur Pandemie nicht viel abgewinnen. Vieles mag interessant und lehrreich sein, doch fehlen sowohl eine überzeugende ethische Theorie als auch Fachwissen, um hinreichende ethische Orientierung bieten zu können. 🧵 1/
Der Schlüsselbegriff der Stellungnahme ist "Vulnerabilität". Zurecht weist der Ethikrat darauf hin, dass die Rede von "vulnerablen Personen" irreführend sei, da Vulnerabilität jedem Menschen zukomme (S. 91 f.). 2/
Nun sollte man denken, der Ethikrat werde sagen, dass jeder Mensch durch das Virus gefährdet ist - weit gefehlt. Stattdessen benutzt er diesen Ausdruck, um dem Bedürfnis nach Gesundheit andere, dagegen abzuwägende Bedürfnisse gegenüberzustellen. 3/
Folgt man dem Ethikrat, dann sind Kinder durch das Virus eigentlich gar nicht vulnerabel. Es liest sich so, als hätten die Schulschließungen nicht auch ihrem Schutz gedient. Bedürfnisse hätten die Kinder v.a. nach sozialem Umgang und Bildung. (S. 95, 138) 4/
Der Ethikrat verschließt sich damit den Einsichten der internationalen Forschung zur Gefährdung von Kindern (kennt ihr). Auch wird nicht berücksichtigt, dass der Tod von sorgetragenden Personen zu einer schweren Traumatisierung der Kinder führen kann. 5/
Es ist eben nicht so, dass die Schulschließungen insgesamt zu einer Verschlechterung der psychischen Situation der SuS geführt hätten. Wie wichtig auch diesen Gesundheit und Schutz sind, zeigt sich nicht zuletzt an der Schülerinitiative @WirWerdenLautDE. 6/
Und ist dieser Satz (S. 115) etwa als Aufruf zu verstehen, Kinder nicht zu impfen? Um die weltweite Impfgerechtigkeit zu verbessern - was dringend notwendig ist - muss v.a. die Produktion von Impfstoffen erhöht werden. Das ist kein bloßes Verteilungsproblem. 7/
Erschreckend ist die Art, wie der Ethikrat das No Covid-Konzept abbürstet, das er anscheinend nicht verstanden hat. In den Kommentaren ist das Nötige dazu gsagt worden. 8/
Länder mit einer No Covid-Strategie haben erheblich weniger gesundheitliche und gesellschaftliche Schäden zu beklagen. Der Ethikrat scheint das nicht zur Kenntnis zu nehmen. 9/
In diesem Zusammenhang sollte man wissen, dass Julian Nida-Rümelin, stellvertretender Vorsitzende und einziger wirklicher Philosoph in dem Gremium, ein Anhänger der Great Barrington Declaration ist: "Es ist wörtlich das drin, was ich für richtig halte." 10/
Doch nun zum Entscheidenden: Welche Empfehlung gibt der Ethikrat zum Umgang mit der Pandemie? Hmm, eigentlich gar keine. Vielmehr will er ethische Kriterien vorstellen, nach denen wir den richtigen Umgang bestimmen können. 11/
Er geht dabei richtigerweise davon aus, dass der Gesundheitsschutz nicht unbedingte Priorität vor anderen Bedürfnissen haben kann. Dies ergibt sich aus der Grundrechtsdogmatik. (Leider werden die interessanten Ausführungen dazu nicht sorgfältig von Ethik getrennt.) 12/
Nur die Menschenwürde sei ein unbeschränktes Grundrecht, alle anderen Grundrechte - auch das Recht auf Leben - schränkten einander ein. Nun ist das Recht auf Leben ohne Zweifel ein sehr fundamentales Recht, insofern es die Bedingung der Ausübung aller anderen Rechte ist. 13/
Doch, um zunächst auf der individuellen Ebene zu bleiben, es kann z.B. im Rahmen einer palliativen Therapie sinnvoll sein, bei einer unheilbaren Krankheit zur Ersparung weiteren Leidens das Leben etwas abzukürzen. 14/
Und wenn wir das Recht auf körperliche Unversehrtheit hinzunehmen, dann wird deutlich, dass wir oft körperliche Risiken auf uns nehmen, die zwar bisweilen leichtsinnig sind, uns aber im Rahmen der persönlichen Autonomie zustehen und manchmal sogar vernünftig sein mögen. 15/
Der Ethikrat will, dass wir uns im Rahmen eines demokratischen Diskurs darauf verständigen, wie wir Güterabwägungen treffen und welche Risiken wir in Kauf zu nehmen bereit sind. Das könne auch bedeuten, unseren bisherigen Umgang mit Krankheiten zu revidieren. (S. 134) 16/
Implizit beruft sich der Ethikrat dabei auf den rechtlichen Begriff der "Sozialadäquanz", der auf die Pandemie bezogen bedeuten würde, dass Grundrechtseinschränkungen zu Gunsten des Gesundheitsschutz nur zulässig sind, insofern sie für einen Standard der Risikominimierung 17/
notwendig sind, auf den wir uns durch einen gesellschaftlichen Diskurs (implizit, nicht durch Abstimmungen) verständigt haben.

Nun mag das der richtige politische Prozess sein. Doch ergäbe sich daraus aus rechtlicher und ethischer Sicht eine tragfähige normative Grundlage? 18/
Ich glaube nicht. Denn dieser Diskurs muss sich wiederum an Normen orientieren. Nehmen wir die Interessen von Immunsupprimierten. Was, wenn sich eine Gesellschaft darauf verständigte, eine besondere Gefährdung dieser Gruppe hinzunehmen, um mehr "Freiheiten" zu ermöglichen? 19/
Wer denkt da nicht an Sozialdarwinismus. Und doch lässt der Ethikrat nicht erkennen, ob er einer solchen Lösung grundsätzlich abgeneigt ist. Jedenfalls kommen die Rechte und Bedürfnisse von gesundheitlich besonders gefährdeten Menschen kaum zur Sprache. 20/
Dabei ist dieses Problem besonders dringend! Denn eine Gesellschaft kann nicht für sich entscheiden, welche Risiken sie in Kauf nehmen will - vielmehr muss das auf der individuellen Ebene geschehen. Das Recht auf Gesundheit ist normativ gegen andere Rechte abzuwägen. 21/
Leider versäumt es der Ethikrat herauszuarbeiten, dass zur Freiheit auch das Recht auf körperliche Selbstbestimmung gehört. Wenn ich freiwillig Risiken eingehe, dann heißt das noch lange nicht, dass andere befugt sind, mir diese Risiken zuzumuten. 22/
Ich würde aber nicht sagen, dass Freiheit das einzige schützenswerte Gut ist und andere Güter sich nur durch unsere freie Selbstbestimmung daraus ergeben. Gesundheit ist für sich schon schützenswert. Daher können sich Impfgegner nicht in gleicher Weise auf Obiges berufen. 23/
Doch das führt zu den schwierigsten ethischen Problemen, wozu meine Meinung unmaßgeblich ist. Halten wir fest, dass der Ethikrat keine brauchbaren Kriterien erarbeitet, nach denen auf individueller Ebene Grundrechte gegeneinander abgewogen werden können. 24/
Übrigens fehlen Überlegungen zum Umgang mit gesundheitlichen Langzeitrisiken und der Schwächung der Wirtschaft durch Krankheiten. Long Covid wird kaum mal erwähnt. 25/25

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with 🇺🇦 Michael Oberst 🇺🇦

🇺🇦 Michael Oberst 🇺🇦 Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @miob1781

Apr 8
Fragt ihr euch, was der #Ethikrat zu Personen sagt, die sich eine Infektion absolut nicht erlauben können? Nun ja, eigentlich gar nichts. Die kommen als Thema nicht vor. Der Ethikrat nimmt nicht deren Perspektive ein. 1/
Das omnipräsente Stichwort "Vulnerabilität" dient nicht etwa dazu, auf die prekäre Situation von durch das Virus besonders Gefährdeten hinzuweisen. Vielmehr werden andere Bedürfnisse tendenziell als gleichrangig dargestellt. 2/
Kinder brauchen wohl nur Bildung und die Schule als "sozialen Ort". Äußerungen zu vorerkrankten Kindern? Nicht vorhanden. Und so gerne der Ethikrat Zeugnisse ausstellt: Der mangelnde Infektionsschutz in Schulen wird nicht kritisiert. 3/
Read 4 tweets
Apr 7
Der neueste #Deutschlandtrend zeigt: Eine Mehrheit der Wähler:innen hätte eine #Impfpflicht mitgetragen - entweder für alle Erwachsene oder ab 50 Jahren. 1/
tagesschau.de/inland/deutsch… Image
Eine deutliche Mehrheit lehnt die bundesweite Aufhebung der meisten Corona-Maßnahmen ab. Dabei zeigt sich: Die Abschaffung wird nur von Wähler:innen von AfD und FDP mehrheitlich begrüßt. 2/ ImageImage
Weiterhin signalisiert eine sehr deutliche Mehrheit Bereitschaft, nach wie vor Maske zu tragen, und 53 % aller Wähler:innen wollen das auf jeden Fall tun. Nur bei der AfD besteht eine Mehrheit dagegen - wobei die Bereitschaft auch stark vom Alter abhängt. 3/ ImageImageImage
Read 4 tweets
Mar 30
Bei der Diskussion um #BuschmannsTote habe ich den Eindruck, dass manche es ganz grundsätzlich ablehnen, Politiker:innen für die Pandemietoten mitverantwortlich zu machen. Ich habe den Hashtag bisher nicht verwendet und kann nachvollziehen, wenn man ihn nicht mag. 1/
Aber natürlich haben politische Entscheidungen Einfluss darauf, wie viele vermeidbare Pandemietote es gibt. Großen sogar - man vergleiche etwa Neuseeland mit der Schweiz. Die Maßnahmen wurden von den Politikern ja mit den vielen Toten begründet, die es zu verhindern gelte. 2/
Natürlich haben wir es nicht mit Mord zu tun, wenn Maßnahmen verfrüht aufgehoben werden. Doch von der politischen Verantwortung sollten wir die Politiker:innen nicht entbinden. 3/
Read 6 tweets
Mar 29
Ich möchte @CiesekSandra und @c_drosten herzlich für die vielen Podcast-Folgen danken. In der letzten Folge war eine ziemlich gute Besprechung der Fallstricke, die auf Nicht-Experten (oder Twitter-Experten?) lauern, wenn sie sich in das Gebiet einer ihnen fremden Wissenschaft 1/
vorwagen. Ergänzen möchte ich, dass es zwei Arten davon gibt. Die einen versuchen sich selber als Wissenschaftler:innen und stellen sich gegen die etablierten Wissenschaftler:innen. Im Profil steht dann manchmal Sache wie: "Virologie verbieten!". 2/
Die anderen gleichen eher Journalist:innen und orientieren sich an den Beiträgen von Wissenschaftler:innen, mit denen sie häufig ins Gespräch zu kommen versuchen. Ich glaube, ich gehöre zu letzterer Gruppe. 3/
Read 8 tweets
Mar 29
Ich fühle mich etwas hilflos bei den Lobpreisungen der Infektionen, die für Schleimhautimmunität sorgen sollen. Aus folgenden Gründen bleibe ich weiterhin #Infektionsgegner: 1/
a) Es liegt mir zwar fern zu bestreiten, dass Infektionen grundsätzlich dafür geeignet sind, Schleimhautimmunität herzustellen. Es geht ja nicht um sterile Immunität, sondern um eine Reduktion der Infektionen und eine Abschwächung der Krankheitslast. 2/
Doch wissen wir, wie gut der Schutz durch Schleimhautimmunität sein wird? Ist Long Covid noch möglich? Welche Langzeitfolgen gibt es? Wie dauerhaft ist der Schutz? Vermutlich wissen wir das alles noch gar nicht. 3/
Read 14 tweets
Mar 24
Ich bin noch halbwegs jung und denke nicht im Traum daran, mich zu infizieren. Wenn man selbst bei dreifacher Impfung in jedem zehnten Fall Long Covid kriegt, dann bleibt das ein gefährliches Virus. "Frei bewegen": Ja, gerne - aber nur bei Niedriginz. oder Schleimhaut-Impfung. 1/
Ein Blick auf die verfügbaren Studien zeigt, dass - nach den Kriterien der in der Packungsbeilage aufgelisteten Nebenwirkungen - Long Covid eine häufige oder sehr häufige Folge einer Infektion bei dreifach Geimpften ist. Das ist kein Erkältungsvirus! 2/
Und was den Aufbau von Schleimhautimmunität betrifft: Das muss durch spezielle Impfstoffe geschehen, die derzeit entwickelt werden. Oder würde ein Impfstoff zugelassen, von dem man häufig oder sehr häufig Long Covid kriegt? 3/
Read 9 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Don't want to be a Premium member but still want to support us?

Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!

:(