Ich bin mehr und mehr überzeugt, dass die #Zeitenwende Rede von Olaf Scholz am 27.2. primär dazu diente aus dem Schatten der Ära Merkel zu treten und Scholz als Bundeskanzler mit eigenem außenpolitischen Profil zu positionieren, erst in 2. Linie ging es um praktische Hilfe für
die Ukraine. Die Rede zielte primär darauf ab, die Grundpfeiler der Merkel Doktrin einzureißen, also die strukturelle Unterfinanzierung der Bundeswehr und die strategische Partnerschaft mit Russland und die daraus resultierende Energieabhängigkeit. Damit meldete Scholz einen
klaren Führungsanspruch an und zwang auch die eigene Partei dem neuen Kurs zu folgen, wenn auch in Teilen widerwillig. Waffenlieferungen an die Ukraine wurden auch angekündigt, aber sie blieben im Rahmen dessen, was andere westliche Länder, allen voran die USA und UK bereits vor
Beginn des Krieges an die Ukraine geliefert hatten. Seit der ersten Ankündigung einer #Zeitenwende hat Scholz jedoch keinen nennenswerten Führungsanspruch angemeldet, um z.B. Waffenlieferungen an die Ukraine zu forcieren, oder die Lieferungen qualitativ auf eine neue Stufe zu
heben, etwa durch die Lieferung schwerer Waffen. Abstimmungen innerhalb der NATO, Eskalationsrisiken und Probleme mit Ausbildung, Logistik, etc. werden angeführt, dass Deutschland hier nicht mehr unternimmt. Kritiker werden als 'Jungs und Mädels' paternalistisch abgebügelt. Der
Hintergrund dieser relativen Enthaltung scheint mir darin begründet, dass Scholz die Rolle Deutschlands nicht in erster Linie darin sieht, der Ukraine unter Aufbbringung aller Kräfte zu einem militärischen Sieg zu verhelfen. Stattdessen scheinen Risikovermeidung und Respekt vor
den Befindlichkeiten Russlands weiterhin strategische Maximen zu sein, an denen sich das deutsche Handeln ausrichtet, was zur Folge hat, dass Berlin weit hinter seinen praktischen Möglichkeiten schwere Waffen zu liefert, zurückbleibt. Hier scheint Scholz auch die Nähe des
friedenspolitischen Flügels der SPD-Bundestagsfraktion um Mützenich, Stegner etc. zu suchen, weil er zu den eigenen Fachpolitikern und den Koalitionspartnern auf Distanz bleibt. Vllt. glaubt Scholz das Maximum an Zumutungen für die SPD ausgesprochen zu haben, aber mir scheint es
handelt sich hier um ein tieferes strategisches Kalkül nach dem Scholz handelt und das insbesondere darauf abzielt, die geopolitischen Kosten dieses Krieges für Deutschland so gering wie möglich zu halten und eine immer weitergehende und tiefere Involvierung zu vermeiden. Der
Ukraine wird im Rahmen bestehender Möglichkeiten geholfen, es werden zusätzliche Finanzmittel bereitgestellt, damit Kiev sich selbst Rüstungsgüter beschaffen kann, aber alles, was Deutschland weiter exponieren würde, wird aus einer Kombination von innenpolitischer Abwägungen und
geopolitischer Zurückhaltung vermieden. Obwohl sie die deutsche Außen-, Sicherheits- und Verteidigungspolitik zum Gegenstand hat, zielt die #Zeitenwende primär nach innen, um eine klare Trennlinie zwischen der Ära Scholz und der Ära Merkel zu ziehen. Die aktive Gestaltung des
geopolitischen Umfelds Deutschlands, aber spielt bei diesem Projekt leider nur eine untergeordnete Rolle. Berlin richtet den Blick auch weiterhin vor allem auf sich selbst und die eigenen Befindlichkeiten.
Das heißt nicht, dass die #Zeitenwende nicht auch qualitative Verbesserungen zur Folge haben wird, z.B. in der Diversifizierung der deutschen Energieversorgung. Aber auch die qualitative Stärkung der Bundeswehr beispielsweise wird in erster Linie darauf abzielen, die deutschen
Streitkräfte wieder in die Lage zu versetzen, im Rahmen der NATO konventionelle Abschreckung zu leisten. Mit einer auf Territorialverteidigung optimierten Armee würde sich Deutschland im Grunde innerhalb des strategischen Kompasses von 1955-1990 bewegen, wenn auch nicht mehr an
der innerdeutschen Grenze, sondern an der NATO-Ostflanke. Mit der Refokussierung auf die Landes- und Bündnisverteidigung könnte das Mantra 'kämpfen können um nicht kämpfen zu müssen' wieder zur Leitlinie werden und die, gerade bei der SPD besonders ungeliebten, Auslandseinsätze
würden allenfalls eine sekundäre Rolle spielen, etwa bei der Ertüchtigung verbündeter Streitkräfte. Statt außenpolitischen Aktionismus und die aktive Beteiligung Deutschlands an internationalen Kampfeinsätzen würde die #Zeitenwende also eher ein Zurück zur strategischen Rolle vor
1990 bewirken. Eine Deutschland, das zwar militärisch stark ist, sich aber gleichzeitig auf eine reine Verteidigungs- und Abschreckungsrolle konzentriert, könnte sich wohl auf einen breiten gesellschaftlichen und parteipolitischen Konsens stützen. Ob aber die reine Beharrung auf
dem Status Quo, wie zu Zeiten des Kalten Krieges, und die Weigerung sein sicherheitspolitische Umfeld auch über den Rahmen von NATO und EU hinaus zu beeinflussen, dem außenpolitischen Gewicht Deutschlands und seiner geopolitischen Rolle in Europa gerecht werden, ist zu bezweifeln

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Apr 13
Nach der Rede von Scholz zur #Zeitenwende habe ich kurz gedacht, dass echt mal ein Ruck durch die Politik dieses Landes geht, dass wir unseren wohlfeilen Sonntagsreden auch mal Taten folgen lassen, vorangehen statt zu bremsen, Mut zeigen, statt Bedenken zu äußern. Tja.
Neben der Enttäuschung macht sich allerdings auch Wut breit, vor allem über die SPD. Wie viele Ukrainer müssen eigentlich noch verrecken, bis Scholz, Mützenich, Stegner und Co. endlich ihren inneren Schweinehund überwinden und von den Dogmen der Vergangenheit Abschied nehmen?
Angeblich werden Linien überschritten und Eskalationsspiralen gedreht, wenn wir schwere Waffen liefern. Hinter der intellektuellen Armut dieser Argumente versteckt sich schlicht eine Feigheit, sich auf die Herausforderungen dieser neuen Zeit einzulassen. Zu bequem war das davor.
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Apr 13
Zum Thema Eskalation: die Russen™️ sind vor ca. 6 Wochen mit 150.000 Mann und Hunderten Panzern und Artilleriegeschützen in die UKR eingefallen. Sie haben ballistische Raketen abgefeuert, sind Luftangriffe geflogen, setzten Vakuum und Streubomben ein, und töten gezielt Zivilisten
Wenn D der UKR schwere Waffen wie Panzer liefert, schraubt es nicht an der Eskalationsspirale™️ sondern es beantworte mit angemessenen Mitteln eine Aggression die klar gegen Art. V der UN-Charta verstößt und hilft einem in seiner Existenz bedrohten Land dabei sich zu verteidigen
Und auch wenn wir schwere Kriegswaffen liefern oder UKR Soldaten an ihnen ausbilden werden wir nicht direkt zur Konfliktpartei, noch gibt es einen Automatismus der dann NATO-Bündnisfall/3.WK/globalen Atomtod auslöst. Putin könnte jetzt schon Deutschland’s Rolle als Kriegsakt
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Apr 12
Dieses raus aus der Eskalationsspirale, ist ungefähr so nützlich wie den Ukrainern zuzurufen ‘habt ihr schon mal probiert nicht angegriffen zu werden?’ Es ist menschlich verständlich weil man will, egal wie, von Gewalt, Tod und Zerstörung weg, es ist aber auch leider weltfremd.
Oftmals fehlt uns aber auch einfach das intellektuelle Rüstzeug, um uns geistig mit Krieg, Gewalt und militärischer Logik, jenseits aller moralischen Entrüstung auseinanderzusetzen.
Auch bei sogenannten Experten wie Vad oder Varwick findet eigentlich in dem Sinne keine Analyse statt, sondern es wird eine bestimmte politische Weltanschauung vertreten, die mit sicherheitspolitische Argumenten unterfüttert wird.
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Apr 12
In all the debates over the #Zeitenwende and German weapon shipments to UKR I come back to one thing, we can do more if we want to do more. For all the practical difficulties of organising training, providing logistics and maintenance for German systems like Leopard 1 or Marder
these can ultimately be overcome if there is the political will to so. To tell UKR, which has fighting experience since 2014 and has, against all odds, beaten back a vastly bigger RUS force, they would be too inept to handle GER equipment is an arrogance bordering on insult.
Instead of identifying problems first and base every decision on what obstacles there are to its implementation, Germany could trust in the courage, ingenuity and tenacity of the Ukrainians to make things work. Would every tank have a functioning blinker and MOT check, maybe not.
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Apr 12
Berlin muss eine Frage politisch beantworten. Wollen wir, dass die UKR diesen Konflikt militärisch gewinnt? Dann muss man sie in die Lage versetzen, die Verluste des Angreifers so in die Höhe zu treiben, dass RUS keine Chance auf einen Sieg mehr hat und zu verhandeln bereit ist.
Deswegen macht es auch keinen Sinn ständig davon zu reden, dass es 'keine militärischen Lösungen gibt'. Ob Sieg oder Niederlage, der Ausgang des militärischen Kräftemessens in der UKR wird über die politischen Bedingungen nach dem Krieg entscheiden und wer seine Ziele durchsetzt.
Es auch Schwachsinn zu behaupten, man müsse aus der Eskalationsspirale aussteigen. Krieg ist eine dialektische Angelegenheit, jeder versucht dem anderen seinen Willen durch den Einsatz von Gewalt aufzuzwingen, aus dieser Logik kann ich nicht aussteigen wie aus einem Autoscooter
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Apr 12
Die gleichen Experten, die der UKR vor 6 Wochen noch 72h bis zur Kapitulation gaben, sprechen ihr heute die Fähigkeit ab deutsche Panzer zu nutzen und instand zusetzen. Vielleicht sollten wir UKR nicht immer unterschätzen und bevormunden. Just a thought. welt.de/politik/deutsc…
Klar sind Logistik, Wartung, Ausbildung große Herausforderungen. Nur vielleicht würden die Ukrainer eben auch einfach anders vorgehen als wir in unserem überregulierten Friedens- und Übungsbetrieb. Wenn Kiev meint ihnen würden Leo 1/Marder etc. helfen, warum ihnen nicht glauben?
Was mich bei der Debatte aber grundsätzlich stört ist, dass wir zuerst immer nach Gründen suchen warum etwas nicht geht (Ausbildung dauert zu lange, keine Erfahrung mit der Technik, keine Eskalation riskieren, etc.) anstatt zu schauen was geht u. vllt. auch mal zu improvisieren.
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