Heute vor 78 Jahren begann die Deportation der #Krimatataren aus ihrer Heimat. Dieses Ereignis erinnern sie bis heute als Sürgünlük (Exil) und es ist das größte Trauma ihrer Geschichte. 1/19
Vorausgegangen war der Deportation die Rückeroberung der Krim durch die sowjetische Armee im Zweiten Weltkrieg. Dieses Ereignis machte besonders Sewastopol in der sowjetischen bzw. russischen Erinnerung zu einem Ort des Heldentums. 2/19
Für die Krimtataren aber war die Rückeroberung eine Katastrophe: Stalin beschuldigte sie kollektiv der Kollaboration (obwohl viele in der Roten Armee und als Partisanen kämpften) und ließ praktisch die gesamte krimtatarische Bevölkerung (ca. 3/19
189 000 Menschen) unter grauenhaften Bedingungen nach Usbekistan deportieren, die meisten waren Frauen, Kinder und Alter. Viele starben während der Fahrt oder nach der Ankunft. Viele andere Minderheiten auf der Krim wurden ebenfalls deportiert. 4/19
Insgesamt zwei Millionen Menschen ließ Stalin im Zuge des Kriegs gegen Deutschland deportieren, ein ähnliches Schicksal wie die Krimatataren erlitten die Tschetschenen im Nordkaukasus. Der Vorwurf der Kollektiv-Kollaboration war falsch. 5/19
Zwar hatten sich eine relativ große Zahl der Krimtataren den Deutschen angeboten, dies hing aber vor allem mit dem Stalinistischen Terror der vorausgegangen Jahre zusammen, in denen besonders krimtatarische Eliten massenhaft verfolgt wurden. 6/19
Trotzdem kämpften viele Krimtataren in der Roten Armee oder in Partisaneneinheiten. Als diese nach dem Krieg zurückkehren wollten, mussten sie ebenfalls nach Usbekistan. Erst 1967 wurden die Krimtataren offiziell rehabilitiert, zurückkehren durften sie aber nicht. 7/19
Einige taten dies trotzdem in den folgenden Jahrzehnten, erst ab 1989 erfolgte die staatliche Erlaubnis. 8/19
In ihrer Heimat stießen die Rückkehr:innen oft auf Ablehnung, ihre Häuser waren von anderen bewohnt und sie siedelten sich unter sehr ärmlichen Bedingungen oft an den Rändern von Städten an. 9/19
Bereits in den 1960er waren Krimtataren Teil des Dissidentenmilieus, besonders bekannt ist Mustafa Dzhemiliev (*1943): de.wikipedia.org/wiki/Mustafa_A…
Andere sowjetische Dissidenten solidarisierten sich und forderten die Möglichkeit zur Rückkehr. 10/19
Für die Krimtataren reihte sich die Deportation von 1944 in eine lange Leidensgeschichte unter russischer Herrschaft ein und das ist nicht falsch: seit der ersten russischen Annexion 1783 wurde der Einfluss der bis dahin dominierenden Krimtataren kontinuierlich… 11/19
…zurückgedrängt, bereits im Krimkrieg (1853-56) wurden sie der Illoyalität beschuldigt und massiv diskriminiert. Bis zu 200 000 Menschen verließen im Zuge des Kriegs die Krim und gingen ins Osmanische Reich. 12/19
Freilich gab es auch Momente der erfolgreichen Integration, so z.B. in der Armee. In der krimtatarischen Erinnerung spielt das aber auf Grund der Erfahrungen des 20. und 21. 13/19
Jahrhunderts verständlicherweise keine Rolle: Als Putin die Krim im Februar 2014 annektierte, waren es besonders die Krimtataren, die sich entschieden dagegen stellten und den Verbleib der Krim in der Ukraine forderten. 14/19
Anders als der russische Staat hatte der ukrainische Zentralstaat sie nie systematisch diskriminiert. 15/19
Außerdem war eine neue Generation herangewachsen, die sich eindeutig als ukrainische Staatsbüger:innen verstanden, so etwa die Sängerin Jamala, die mit ihrem Lied „1944“ den ECS 2016 für sich entscheiden konnte: Die Befürchtungen gegenüber… 16/19
…Russlands bestätigten sich auf grausame Weise: Besonders die Krimtataren werden auf der Krim verfolgt, Dzhemiliev darf schon lange nicht mehr einreisen, sein Sohn von den russischen Behörden festgenommen und nach Krasnodar ins Gefängnis transportiert. 17/19
Ihr Fernsehsender АТР wurde kurz nach der Annexion geschlossen und befindet sich seitdem in Kyjiw. @ngumenyuk hat ein sehr gutes Buch über die „Verlorene Insel“ geschrieben, das beim @ibidem11 Verlag erschienen ist. Hier kommen auch viele Krimatatar:innen zu Wort. 18/19
Heute kämpfen viele Krimtataren in der ukrainischen Armee. 19/19

• • •

Missing some Tweet in this thread? You can try to force a refresh
 

Keep Current with Franziska Davies 🇺🇦

Franziska Davies 🇺🇦 Profile picture

Stay in touch and get notified when new unrolls are available from this author!

Read all threads

This Thread may be Removed Anytime!

PDF

Twitter may remove this content at anytime! Save it as PDF for later use!

Try unrolling a thread yourself!

how to unroll video
  1. Follow @ThreadReaderApp to mention us!

  2. From a Twitter thread mention us with a keyword "unroll"
@threadreaderapp unroll

Practice here first or read more on our help page!

More from @EFDavies

May 19
Ein thread zur Geschichte der Ukrainer:innen im Habsburger Reich: Die Geschichte der #Ukraine wird oft als Teil der russischen Geschichte begriffen. Dabei ist sie auch ein Teil der (ost-)mitteleuropäischen Geschichte, nicht zuletzt, weil viele Ukrainer:innen im

1/24
19. Jahrhundert in enger Nachbarschaft mit Polen, Juden, Rumänen, Ungarn und Slowaken im Habsburger Reich lebten.

2/24
Nach der letzten Teilung Polen-Litauens 1795 durch das Russische Reich, das Habsburger Reich und Preußen, lebten Ukrainer entweder unter zarischer oder habsburgerischer Herrschaft.

3/24 Image
Read 24 tweets
May 19
Weiter geht's mit den Fehlannahmen: In der @NZZ behauptet Herfried Münkler, dass der Krieg hätte verhindert werden können, hätte man doch nur mit Putin verhandelt und die Neutralität der Ukraine garantiert:
nzz.ch/international/… Woher wissen wir das? Putin hat schon lange 1/5
deutlich gemacht, dass er keine Neutralität will (die Selenskyj schon kurz nach Kriegsbeginn ins Spiel gebracht hat), sondern dass er die EXISTENZ der Ukraine als historischen Fehler betrachtet. Diesen will er nun rückgängig machen (Russifizierung, Einführung des Rubel, Zer- 2/5
störung ukrainischer Kulturgüter). Diese Realität müssen wir zur Kenntnis nehmen und die Frage beantworten wie unter diesen Bedingungen verhandelt werden soll/kann. Münkler spricht zwar von Russlands imperialen Träumen, der Kern ist aber, dass Putin die Ukraine als Teil der 3/5
Read 5 tweets
May 19
Dieser Artikel im @cicero_online ist symptomatisch für die deutsche Debatte. Die Autor:innen fordern man müsse die "Vorgeschichte" des Kriegs analysieren und wo beginnt diese "Vorgeschichte"? Genau: mit der NATO-Osterweiterung. Die Ukraine als Akteur fehlt mal wieder völlig. 1/7
Es war die Orangene Revolution, die Putin traumatisiert hat (siehe Buch v. M. Sygar "Endspiel"), also das erste Anzeichen für die Stärke der Demokratie in der UA. 2014 griff Putin ein als die Ukrainer:innen sich abermals wehrten und sich von Moskau emanzipierten. Das taten 2/7
sie nicht auf Grund der NATO, sondern weil sie es wollten. Gesellschaften sind auch Akteure der Geschichte, nicht nur "Großmächte". Was fehlt außerdem in der Analyse der "Vorgeschichte"? Die Radikalisierung des Putin-Regimes nach innen und nach außen. Die Geschichte 3/7
Read 7 tweets
May 11
Geschichte der Krim seit 1787 bis zur Gegenwart ein 🧵, part 2 (sorry, it's a long story): Nach 1945 wurde die Krim außerdem zu einem beliebten Reiseziel. Das hatte es im Zarenreich schon unter den Eliten gegeben, jetzt gab es einen sowjetischen Massentourismus, 1/17
der das nostalgische Gefühl gegenüber der Halbinsel in Russland und der Ukraine erklärt. 1954 fand die berüchtigte „Schenkung“ der Krim (inzwischen nur noch ein Verwaltungsbezirk, oblast‘) an die Sowjetukraine durch Nikita Chruschtschow statt, angeblich aus Anlass der 2/17 Image
300-Jahresfeier der „Wiedervereinigung“ von Russen und Ukrainern. Tatsächlich dürften infrastrukturelle und ökonomische Überlegungen entscheidend gewesen sein. Die Krimtataren wurden offiziell erst 1967 rehabilitiert. Schon in den 1960er Jahren wurden einige zu Dissidenten, 3/17
Read 21 tweets
May 11
Russlands Krieg gegen die Ukraine begann im Februar 2014 mit der Annexion der Krim. Ein🧵über die Geschichte der Krim von ihrer (ersten) russischen Annexion 1783 bis zur Gegenwart. Teil 1: Russland beansprucht die Krim als Teil der eigenen Nation. 2014 erfasste die Losung 1/25
„Krym nasch“(„die Krim gehört uns“) fast die ganze russische Gesellschaft – auch Putin-kritische Kreise. Woher kommt diese Vorstellung? Es war Zarin Katharina II. („die Große“), die die Krim im Jahr 1783 erobern ließ. Schlüsselfigur war dabei der berühmte Staatsmann & 2/25
Liebhaber Katharinas Grigorij Potemkin. Die Annexion geschah im Zuge der Kriege gegen das Osmanische Reich und der Expansion in die heutige Südukraine. Zum Zeitpunkt der Eroberung war das Krimkhanat formal unabhängig, de facto unterstand es dem Osmanischen Reich. Neben den 3/25
Read 26 tweets
May 9
Geschichtspolitik #Ukraine vs. #Russland: Der Kontrast zwischen @ZelenskyyUa zu #Putin am #TagDesSieges ist faszinierend: Putin wiederholt die Leier von den "Faschisten" in der Ukraine, dem bösen Westen, dem großen Russland etc., hat aber eigentlich keine kohärente Erzählung 1/
über den jetzigen "Sieg" anzubieten. Ganz anders Zelensky: er lässt sich den 9. Mai von Russland nicht wegnehmen, beansprucht den Sieg über Nazi-Deutschland aber nicht allein für die Ukraine, sondern reiht ihn ein in eine Gesamtanstrengung vieler Völker. Dieser Sieg gegen den 2/
Faschismus macht er zur Vorgeschichte des künftigen Siegs gegen den neuen Aggressor, der damit implizit zum Nachfolger NS-Deutschlands wird. Vor allem aber erzählt er die menschliche Dimension der Kriegserfahrung: der Verlust, die Zerstörung, die Trauer und verbindet das 3/
Read 6 tweets

Did Thread Reader help you today?

Support us! We are indie developers!


This site is made by just two indie developers on a laptop doing marketing, support and development! Read more about the story.

Become a Premium Member ($3/month or $30/year) and get exclusive features!

Become Premium

Don't want to be a Premium member but still want to support us?

Make a small donation by buying us coffee ($5) or help with server cost ($10)

Donate via Paypal

Or Donate anonymously using crypto!

Ethereum

0xfe58350B80634f60Fa6Dc149a72b4DFbc17D341E copy

Bitcoin

3ATGMxNzCUFzxpMCHL5sWSt4DVtS8UqXpi copy

Thank you for your support!

Follow Us on Twitter!

:(