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Jun 17 48 tweets 11 min read
Erinnert ihr euch noch an #nichtselbstverständlich? Als Joko und Klaas „nur“ 7 Std Dienst einer Pflegeperson aufgenommen haben und es im TV gezeigt haben und alle waren entsetzt?

Heute nehme ich euch auf Twitter mit, 14,5 Std. Ich bin am überlegen, welcher Hashtag da passt…
Wie wäre es mit #5nach12? Genau das ist die Zeit, in der wir uns im #Pflegenotstand aktuell bewegen.

5:45 Uhr: Nach den Spätdienst gestern hab ich schlecht geschlafen. Jeder, der den Spät-Früh-Wechsel mal gemacht hat kennt dieses Gefühl vom „Überfahren sein“ am Morgen.
Abends wirst du nicht richtig müde weil noch aufgedreht, morgens gehst du dann schon platt zum Dienst. Die Voraussetzungen also perfekt für einen Tag wie heute. Natürlich sind wir dann auch nicht in Bestbesetzung im Frühdienst, sonst müssten diese 14,5 Std nicht sein.
Normal sind es 4 Personen von 6:30 -14 Uhr, heute sind es 2 (ich als PFK und 1 APH) + eine Fachkraft die von 6:30-10 Uhr einspringt, wegen 3 Kindern nicht mehr möglich. 2,5 Kräfte also.

Das die Voraussetzungen, ich mach mich jetzt auf den Weg, Updates folgen den ganzen Tag👇
Auf Arbeit angekommen ein kurzer Disclaimer an die „Wenn Zeit zum Twittern ist, kann die Arbeit nicht so wild sein“- Trollfraktion, die sich ab einem Punkt sicher mit den Füßen auf ihrem heimischen Fliesentisch einschalten und die Situation perfekt einschätzen können:
Um 6:30 Uhr startet die Übergabe, habe jetzt schon erfahren, dass die Nacht ruhig war. Eine Frau ist seit gestern mit Verdacht auf Schlaganfall ins KH und nicht wiedergekommen. Evtl doch was gefunden.

Die Kollegen sind so motiviert wie man in solch einer Situation sein kann.
Die erste Runde ist rum: Die vom Nachtdienst gerichteten Medikamente kontrollieren und ausgeben, Kompressionsstümpfe anziehen, Kompressionsverbände anlegen, Blutdruck und Blutzucker messen und Insulin spritzen.

Nun beginnt das große Klingeln, alle wollen zum Frühstück
Keine Sorge Leute, ich lebe noch.

Aber die Arbeitslast… seht es mir nach, wenn viele der kommenden Tweets lustig / sarkastisch sind. Würde ich es nicht mit Humor nehmen, müsste ich weinen. Und das ist nicht mein Ding.

Zur Situation:
Aus Duschen wird heute Katzenwäsche, aus Gespräch ein kurzer Check ob niemand sich verletzt hat und alle am Leben sind. Das ist der heutige Anspruch.

Kaum habe ich mir bei einer Bewohnerin die Zeit genommen, mit ihr die Tageskleidung auszusuchen, bimmelt es Alarm.
Eine Dame hat Durchfall und hat ihr Zimmer in das Ackerfeld nach einem Rammstein-Konzert verwandelt, inklusive Optik wie nach einem Dive durch den Schlamm.

Solche Situationen werfen den gesamten Plan durcheinander. Niemand ist ihr böse, aber die Enttäuschung steht uns im Gesicht
Kaum hab ich den Tweet abgesetzt muss jemand auf Toilette usw. Es gibt kaum Verschnaufpause. Vor 10 min dann die nächste Arbeit: Eine der kranken Kollegen ruft an, kann nach einem Sturz den Daumen nicht bewegen, geht zum Arzt, längerer Ausfall. Irgendwo muss ich eine freie
Minute finden, um nun auch noch den Dienstplan anzupassen und Ersatz zu finden, während hier der Bär steppt. Immerhin sind wir mit der Morgenrunde gleich fertig, während hier alle Bewohner um mich herum weinen, lachen, rufen, schlafen…und keinem kann ich mich annehmen.
10:15, die erste ruhige Minute. Wir haben im Haus Alltagsbegleiter, die die Bewohner jetzt zu einer Beschäftigung mitgenommen haben. Bewohner beschäftigt heißt für uns kurze Verschnaufpause und Zeit für Akten und Dokumentation.

Und in dieser ruhigen Minute wird einem klar:
Andere haben die gleichen scheiß Arbeitsbedingungen, aber keine Alltagsbegleiter, die einem die Leute (sorry für den Ausdruck) kurz vom Hals halten.

Ich lese mir eure Kommentare, Glückwünsche, Trauerbekundungen usw. abends durch. Ich nutze die kurze Zeit nur zum runterschreiben.
Wobei eine lustige Situation gab es heute doch und die will ich euch nicht vorenthalten:

Nach der #Pflege einer halbseitig gelähmten Frau wollte sie, dass ich sie mit ihrem Rollstuhl „um die Ecke bringe“. Ich sagte, dass sie das nochmals überdenken sollte. Lustiger wird’s nicht.
Nun habe ich die letzte knapp halbe Stunde damit verbracht, organisatorische Dinge zu erledigen (KZP-Platz vermittelt, Telefonate geführt, Bestellungen getätigt), nun ist kurz Zeit für einen Toilettengang meinerseits und dann geht es weiter. Sind ab jetzt nur noch zu zweit.
Btw: die Bewohner kommen gleich zu ihrem Mittagessen. Ich habe bis dato noch nichts gegessen. Als kleine Randnotiz.

Nun quäle ich mich mit dem SAPV Team wegen einem kaputten Porteingang und deren Austausch rum, verschicke Bilder usw. 🫣 Hab ja sonst nix zu tun.
Und täglich grüßt das Murmeltier:
Die mürrische Tochter einer Bewohnerin ist im Haus. Statt um 11 kriegt die Dame ihre Tablette um 11:15 Uhr. Jetzt droht Tochter mit Anzeige. Die Tochter hat nie Zeit für ihre Mutter und kreuzt einmal im halben Jahr auf.

Das sind mir die Liebsten
Jetzt verlangt sie eine Kopie vom Mediplan, das Essen war natürlich nicht genug und nicht schön genug angerichtet. Ihr kennt es, das Übliche halt, wenn man Streit sucht.

Und dann wundert man sich noch, warum keiner in diesen Beruf will 🤷
Essen ist durch, Toilettengänge absolviert, alle Leute sind entweder im Bett zum Mittagsschlaf oder mit ihren Angehörigen raus (die Doofe hat im Übrigen das Haus bereits verlassen 🤦‍♂️)

Nun ist es etwas ruhiger bis zum Kaffee und Kuchen um 15 Uhr. Zur Übergabe ruft die PDL an,
und kriegt seine Übergabe nach 3 Wochen Urlaub. Bin mal auf seine Reaktion gespannt, da hier der Laden zwar Läuft, allerdings derart auf den Brustwarzen, dass es schon verbrannt riecht.

Ich komme dann jetzt auch mal zum Essen und wir hören uns dann nach der Übergabe wieder.
Und just in diesem Moment kriege ich eine Anfrage für eine Stelle als Lehrer in einer Pflegeschule angeboten. Ich zitiere: „Als stellvertretende Pflegedienstleitung bringen sie viel Fachkenntnis mit sich und ihr pädagogisches Verständnis (Anspielung auf mal altes Studium)
rundet dieses Bild noch ab.

WER VON EUCH WAR DAS????
Ich bin müde. Und es frustriert, die Kollegen nach Hause gehen zu sehen und gleichzeitig zu wissen, dass man hier noch 7,5 Std verbleiben muss. Wahrscheinlich der demotivierendste Moment heute.
50 min Telefonat mit der PDL später und die Quintessenz:

Es bleibt alles so wie es ist.
Ich geh dann mal weiter Kaffee und Kuchen reichen, wir hören uns danach wieder, evtl bissl ausführlicher.
Alltagsbegleiter Nr 2 ist da, Bewohner also wieder aus den Füßen. Zeit für bissl Twitter und die fehlende Dokumentation von heute morgen. Fazit nach genau 9 Std Arbeit bis jetzt:

- Angehörige sind manchmal böse Menschen.
- Mit Humor ist auch schwere Arbeit leichter zu meistern
- Der Tag heute hatte bisher keine Überraschungen parat, das macht die Planung deutlich einfacher

Ich glaube, das Mindset ändert sich jetzt wieder etwas. Nachdem man zur eigentlichen Übergabe, die jetzt ja weggefallen ist, weil…was soll ich mir selbst übergeben? etwas geknickt
war, ist jetzt wieder etwas entspannter. Bis etwa 17 Uhr. Ab da an beginnt der letzte Marathon für heute. Alle Essen, Medis, Spritzen usw., danach alle ins Bett.

Ich würde lügen, wenn ich sage, dass ich mich darauf freue. Immerhin habe ich mir spartanisch ein Brot gemacht 👍
Kaum wollte ich ins Brot beißen, wird geklingelt. Hab mir aber nun doch etwas Zeit genommen und mit dem Herrn gesprochen. Er hat mir von seinen Kriegserlebnissen in Polen erzählt, wie er den armen Bauern Kühe von deutschen Soldaten abgegeben hat und dafür Eimer voll mit Eiern
als Geschenk erhalten hat.

Das sind wieder die kleinen Lichtmomente, die man hat. Kaum im Stationszimmer angekommen, wurde ich von der mürrischen Dame abgefangen. Der Rollstuhl ist nicht da. Sie wollte jetzt raus und normalerweise steht er vor dem Zimmer. 20 min später
ist er gefunden, natürlich im Zimmer einer dementen Dame, die diesen für ihren eigenen gehalten hat. Zurückgebracht erhalte ich nur ein kurzes „Ihren Job würde ich nicht gerne machen!“ der bösen Angehörigen. 🤦‍♂️ Manchmal kann man auch einfach die Fresse halten denke ich mir.
Nun hatte ich meine richtige Pause, 20 min mit der Kollegin am Tisch gesessen und geredet. Da fällt mir auf: diese Situationen passieren extrem selten. Die meisten Mitarbeiter sehe ich morgens zur Übergabe, danach nur sehr kurz beim Vorbeihuschen. Manchmal wirft man sich noch
1-2 Infos zu, und das war’s. Aber auch als Teil der Führungsriege kriege ich selten mit, wie es meinen Mitarbeitern geht, was sie beschäftigt, woran es fehlt. Das stimmt mich jetzt auch wieder etwas traurig, weil ich einen etwas anderen Anspruch an mich und meine Arbeit habe.
Nun ist aber die Ruhephase vorbei, ich mach mich auf die Abendrunde mit Medikamenten und Insulinen, hänge noch eine Portnahrung an und dann gibt es gleich das Abendessen im Speisesaal.

Ich gebe euch später eine weitere Wasserstandsmeldung ab ✋
„Wissen Sie Herr Pflegel, zu Ihnen habe ich vollstes Vertrauen. Ich freue mich, wenn Sie nach dem Urlaub wieder da sind. Bei Ihnen weiß ich, dass ich in guten Händen bin!“

Die Dame mit der Portversorgung.
Aber ich merke langsam die Beine, noch 2 1/2 Std, die letzten Leute warten für den Gang ins Bett. Selbst die dementen Leute fragen mich, ob ich sie heute morgen nicht schon aus dem Bett geholt habe 🤨

Dem habe ich nichts hinzuzufügen
Die letzte Stunde ist angebrochen, der Großteil der Leute ist im Bett, vereinzelt schaut einer noch fern. Die Kollegin, die mich in Spätdienst unterstützt hat, habe ich jetzt nach Hause geschickt (ist eine Hilfskraft, sie dürfte eh nicht alleine bleiben).
Ich weiß immerhin noch wie ich heiße und wo ich bin, aber 13,5 Std Arbeit haben an mir genagt. Aus Mitleid habe ich eine Flasche Wein und Mozartkugeln geschenkt bekommen. Eine Dame meinte, ich sehe sehr blass aus. Was sagt ihr?
Vielleicht noch ein paar Leistungsdaten zum Abschluss?

Wir haben das Bezugspflegesystem bei uns, somit ist man in Gruppen mit festen Personen zugeteilt.

Morgens bestand die Gruppe aus 17 Personen, alle mit pflegerischen und medizinischen Tätigkeiten.
Im Spätdienst ist man zu zweit für alle 3 Bezugsgruppen wobei die Hilfskraft nur pflegerische Tätigkeiten und ich hauptsächlich die Behandlungspflege durchführe, allerdings auch Pflege bei den schwereren Fällen. Da sind es 44 Personen.

Am Ende weiß man, was man geschafft hat
Ich bin eure Kommentare mal etwas überflogen, da las ich auch etwas von „bist du PDL oder warum machst du den Mist mit?“

Vielleicht hilft dabei ein kleiner BWL-Blickwinkel drauf:

In der #Pflege gibt es ein Holy Trinity:

↗️Patienten/Bewohner↘️
Pflegeheim/KH ⬅️ Pflege
Alle sind voneinander abhängig. Ohne Bewohner gibt es keine Pflege, gibt es kein Pflegeheim. Ohne Pflege gibt es kein Pflegeheim, also gibt es keine Bewohner. Und ohne Pflegeheim gibt es keinen Platz für Bewohner und somit keine Pflege.

Kappt man an einer Stelle den Fluss, ist
dieses Gebilde zerstört.

Heißt also: Können wir die Pflege nicht mehr Leisten, kann das Pflegeheim so nicht mehr existieren. So verlieren die Bewohner ihren Platz und wir unseren Job.

Jetzt kann man zynisch sagen: Dann macht das doch! Wenn wir das aber alle machen, sind es
die Alten und Kranken, die den Preis dafür zahlen.

Glaubt mir, ich bin auch dafür, dass sich die Situation in Pflegeeinrichtungen verbessert und in meiner Leitungsposition versuche ich es umzusetzen. Allerdings sind radikale Cuts keine Lösungen, sondern neue Probleme.
Um das Problem des #Pflegenotstandes zu lösen muss man weitreichendere Lösungen finden als Pflegeeinrichtungen zum Untergang zu bringen.
So Feierabend, 14,5 Std. Ich hoffe es hat euch gebildet, unterhalten, geschockt, aber auf keinen Fall gefallen.

Es war und ist eine absolute Ausnahmesituation und nicht die Regel. Heißt aber nicht, dass es nicht zu dieser werden kann. Ich wünsche euch allen einen schönen Tag!
Wie sagte ein einst sehr gebildeter Mann?

„Ich schmeiße mich jetzt erstmal 3 Tage in die Eistonne und danach sehen wir weiter!“

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Sep 7, 2021
Thema: Ursula und der #Pflegenotstand.

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